Der Mitläufer



Er hatte nur ein paar Bier getrunken! Vier Kleine, mehr nicht.
Schon an der Wohnungstür fühlte er, dass etwas nicht stimmte. Die Luft war anders und es herrschte Stille. Mina saß am gemachten Abendbrottisch, und Thommy versuchte, sich hinter dem Stullenteller zu verstecken.
»Was ist?!«, fragte Olaf. Sonst keine Geräusche, nicht mal der Fernseher lief.
»Wir wollen essen«, sagte Mina. Er setzte sich, wobei er Thommy nicht aus den Augen ließ. Sein Sohn - eigentlich kaum zu bändigen und sogar für seine neun Jahre ungewöhnlich lebhaft - verkroch sich in sich selbst, wagte nicht eine Sekunde, den Blick zu heben.
Es war klar, woher der Wind wehte.
»Was ist los?«
Thommy schluckte und sagte kein Wort; Mina senkte die Augen, und eben diese Geste brachte Olaf auf.
Sie aßen schweigend. Mit jedem Bissen, jeglicher Kaubewegung des Einzelnen lud sich die Atmosphäre auf, die Luft knisterte, und alle spürten, dass es zu einer Entladung kommen musste. Gleichwohl war niemand fähig, etwas dagegen zu unternehmen.
Olaf schnappte einen scheuen Blick von Thommy in Richtung seiner Mutter auf; er folgte ihm und konnte gerade erkennen, wie ihre Lider nervös flatterten. Sie vermied es, ihn anzuschauen, starrte auf den Tisch vor sich und kaute und kaute.
Die Schatten unter ihren Augen schienen noch dunkler als sonst. Olaf fand sie in dem Moment hässlich und abstoßend, und es wollte partout nicht in seinen Kopf, dass er mit dieser Frau ein Kind hatte zeugen können.
Solch ein Kind.
Er schlug auf den Tisch, die Teller und Messer klirrten, Thommy zuckte zusammen. Mina stand auf, schlurfte zum Küchenschrank und steckte sich fahrig eine Zigarette an. Sie blies den Rauch aus und endlich, endlich sah sie in seine Richtung.
»Will mir einer sagen, was los ist?!« Es klang lauter, als gewollt.
Thommy fing an zu weinen. Es sollte ihn milder stimmen, aber weil er nicht genau wusste, was hier vor sich ging, würde er gleich platzen.
»Hör auf zu heulen!« Der Junge wimmerte, als Olaf sich halb über den Tisch beugte. Eine harmlose Bewegung nur, doch der Bengel zuckte zusammen, als hätte es einen Donnerschlag gegeben.
Olaf musste an seinen eigenen Vater denken. Drei Jahre war der jetzt tot, dennoch sah er ihn immer noch lebhaft vor sich. Das wächserne Gesicht, die Augen starr auf einen Punkt knapp über Olafs Schulter gerichtet. Und dann diese Geste mit der Hand, die durch's Haar strich.
»Thommy hat dir was zu sagen.« Minas Stimme klang brüchig, sie zündete sich eine zweite Zigarette an und inhalierte tief. Ganz kurz probierte sie ein Lächeln, sie merkte sofort, dass es umsonst war, und brach den Versuch ab.
Thommy wimmerte wieder still vor sich hin. Um ihn zu beruhigen, ließ Olaf sich auf den Stuhl zurücksinken und sah den Jungen unverwandt an. Mit der rechten Hand fuhr er sich in Wellenform durch die Haare.
»Nun«, fragte er kaum hörbar. Dann: »WIRDS BALD!«
Die Reaktionen kamen von Sohn und Mutter. Thommy schrie auf und wich ein Stück zurück, Mina schluchzte und ihm war klar, dass auch sie zusammenzuckte. Das Abendbrotgeschirr klirrte durcheinander, als er sich am Tisch abstützte.
Dann wieder Stille, bis auf Thommys Gewinsel; Olaf registrierte, dass er zitterte, doch er hatte sich unter Kontrolle. Er hatte sich unter Kontrolle!
Noch einmal die Handbewegung durchs Haar.
»Das Taschengeld«, flüsterte Thommy schließlich.
Olaf hatte es wirklich nicht verstanden. »WAS?!«
»Das Taschengeld ... ich hab's verloren.«
Rotz lief über seine Mundwinkel und drohte, in klebrigen Fäden abzustürzen.
Olaf wandte sich um. Mina drückte fahrig ihre Zigarette aus. Dann drehte sie sich ihm zu, verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und schaffte es tatsächlich, auf sein Kinn zu starren.
»Das Geld für die Klassenfahrt, nächste Woche. Du weißt schon.«
Das waren 52 Euro. Er sah wieder zu Thommy. 52 Euro, bei Gott kein Pappenstiel, das lässt man nicht einfach irgendwo liegen, das verliert man nicht.
Er beugte sich vor, brauchte gar nicht weit auszuholen, als er zuschlug.
Die Reaktion kam von ihr, sie jaulte auf wie ein getroffener Hund. Thommy hielt sich die Backe und starrte ihn entgeistert an; für einen Moment. Dann fiel die Maske zusammen und er fing wieder an zu heulen.
»Lass ihn«, versuchte Mina es kraftlos.
Er schlug noch einmal zu. Mein Gott, 52 Euro!
»Lass ihn!«
Minas Stimme klang brüchig, trotzdem holte sie sein Bewusstsein etwas zurück.
Lass ihn! - Ich kann nicht! - 52 Euro!
Thommy saß vor ihm, wimmerte und hielt sich das Gesicht. Allein dieser Anblick brachte ihn noch mehr zum Kochen. Warum das so war, er wusste es nicht und machte sich darüber auch keine Gedanken.
»Hast du eine Ahnung, wie viel 52 Euro Wert sind?«, schrie er.
Thommy schwieg.
»Hast du?«
Er ließ nicht erkennen, dass er verstanden hatte.
»Sieh mich an!«
Keine Reaktion.
Er schlug noch einmal zu.
Diesmal wich sein Sohn von ihm ab. Mit verkrampftem Gesicht warf er den Stuhl um und stolperte rückwärts. Dafür kam Mina und zerrte an seinem Arm. Sie schrie und riss an Olaf herum.
»Lass ihn in Frieden, sag ich!«
Er stieß sie fort; sie fiel nach hinten und war augenblicklich still. Bevor er zuschlagen konnte, kam Olaf zu sich, blickte umher und sog scharf die Luft ein.
Thommy hatte sich davongemacht, Mina rappelte sich auf und rückte immer weiter von ihm ab.
»52 Euro«, sagte er leise und drehte sich um. Seine Frau zuckte zusammen, als er an ihr vorbeiging.

Nachts, im Bett, versuchte er zu ergründen, ob Mina schlief. Er lauschte den regelmäßigen Atemzügen an seiner Seite, dem gleichmäßigen Heben und Senken ihrer Brust.
Es gab Situationen, da liebte er Mina, mehr noch als damals, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Für alles, was sie darstellte, wie sie auftrat.
Dann jedoch erlebte er Gelegenheiten, bei denen musste er sich eingestehen, dass er sie hasste, jeden Muskel, jede Fiber ihres Leibes, die Gesamtheit der Gesten und Worte dieser Frau. Und er verstand es ums Verrecken nicht - wirklich, wirklich, wirklich nicht - weshalb er mit dem Weib zusammenlebte.
Thommy war Teil ihres Selbst, die beiden bildeten eine Einheit seit der Geburt des Jungen. Und oft, sehr oft stand sie gegen ihn, wie ein Block, eine Mauer, in seinen Weg gestellt.

Der »Anker« war eine Szene-Kneipe, der ein bisschen die Szene fehlte. Und die es bis jetzt immer noch schaffte, einen Schritt davor zu stehen, angesagt zu sein.
Olaf hatte ein Namensschild an seinem Platz und ein eigenes Set Dartpfeile im Hinterraum zu liegen. Das hier stellte für ihn Rückzugsort dar, zweite Familie; hierher würde er auch kommen, wenn es kein Bier gäbe.
Die Schatten hier fehlten, einfach, weil zu wenig Licht war.
Nicht viel los heute, Montag, kurz vor Kneipenschluss. Enrico, der dicke Kneiper, zeigte sich ohne großen Enthusiasmus.
Bis auf Olaf und Karsten saß nur eine jämmerliche Gestalt im Dunkeln, die es den ganzen Abend darauf anlegte, sich zu betrinken, aber hoffnungslos davon entfernt war.
Die beiden Kumpels hatten sich leise über belangloses Zeugs unterhalten, fruchtlos und deshalb so beliebt, die Stunden waren angenehm ereignislos verstrichen. Und jetzt, als Olaf allein auf die einsame Straße trat, wehte ein kühler Wind.
Stille und die beruhigende Dunkelheit, durchsetzt von müden Straßenlaternen, taten ihm gut, der Alkohol hatte den Pegel noch nicht erreicht, an dem er unangenehm wurde. Also stiefelte er hinaus und machte sich auf den Weg.
Er würde sich bei Mina entschuldigen.
Die Gasse vor dem »Anker« führte schnurgerade, die Häuser lagen einen Gutteil zurückgesetzt und so fiel ihm der Verfolger in seinem Rücken recht schnell auf. In hundert, hundertfünfzig Metern Entfernung bewegte sich eine Gestalt, die ihm offenkundig folgte und in dem schummrigen Licht kaum zu erkennen war.
Er fühlte sich nicht beunruhigt, eher amüsiert, wohl auch wegen der Biere, die ihre Wirkung zeigten. So ging er weiter, hing seinen Gedanken nach, und hin und wieder warf er einen Blick zurück.
Die Figur bog nicht ab, verharrte nicht oder ließ sich zurückfallen; vielmehr schien sie bedacht, den exakt gleichen Abstand zu Olaf zu wahren: Wenn er stehen blieb, blieb der Unbekannte auch stehen, wurde er selbst langsamer, tat der Andere dies gleichfalls, und sobald er das Tempo anzog, geschah es hinter ihm ebenso.
Als er drehte und dem Fremden entgegenlaufen wollte - einfach aus einer Laune heraus - da sah er, dass sein Verfolger sich ebenfalls umwandte und weglief.
Olaf war sicher, dass es sich bei der Gestalt nicht um die Person handelte, die mit ihnen im »Anker« gesessen und krampfhaft versucht hatte, sich zu betrinken. Zu exakt, zu gradlinig und zielbewusst erschienen die Bewegungen des Mannes, der ihm da folgte, zu akkurat und unauffällig, als dass er Alkohol getrunken haben und womöglich berauscht sein konnte.
Olaf schloss die Tür zu seinem Block auf und warf einen letzten Blick zurück. Die Person stand unten am Straßenende und beobachtete ihn; es machte den Eindruck, als schwanke er leicht im Wind.
Olaf grinste und ging hinein.

Mina hatte den Vormittag frei, so konnten sie in Ruhe zu frühstücken und sich sagen, was zu sagen war. Also saß sie ihm stumm gegenüber, kaute stoisch, immer mit diesem »wir-müssen-reden«-Blick, der ihn fertigmachte, von dem er wusste, dass er nicht verschwinden würde, bevor sie nicht tatsächlich geredet hätten.
Das Wetter ließ hoffen, die ersten Frühlingstage, eigentlich sollte die Laune blendend sein.
»Also?«, sagte er unverbindlich und lächelte.
Lächeln, das hatte er im Laufe des Lebens gelernt, entspannte viele Situationen; sein Vater hatte nie gelächelt, nicht einmal, wenn Olaf versuchte, ihm eine Freude zu machen. Immer dieselbe ernste Miene, der verkniffene Ausdruck.
»Ich muss morgen arbeiten«, sagte Mina, doch sie lächelte nicht zurück. Eigentlich war das ihr freier Tag, sie hätten was unternehmen können - zusammen, Mina, Olaf und Thommy.
Sein Lächeln rutschte ebenfalls runter. »Scheiße.«
»Ich kann es nicht ändern, Olaf«, fuhr sie hoch. »Ich mach die Pläne nicht.« Sie langte über den Tisch und griff die Konfitüre. »Wir haben halt wenig Personal, und von den jungen will keiner mehr Überstunden schieben.«
Olaf stöhnte auf. »Im Aldi!«, sagte er. »Im Aldi an der Kasse!« Es klang wie eine Anklage. »Unterbesetzt!«
»Olaf, so ist das nun mal. Niemand macht das gerne, keiner setzt sich da hin und lässt sich von den Leuten vollpflaumen. Von den Leuten auf der anderen Seite.«
Sie trug das Haar noch offen, das gab ihr etwas Wildes, nur die Augen standen im Kontrast dazu. Die Ringe waren nicht blasser geworden.
»Vielleicht bist du der Meinung, die Arbeit macht Spaß, aber das ist nicht so.« Sie wich seinem Blick aus. »Ganz und gar nicht.«
Die Stille, die darauf entstand, musste unterbrochen werden.
»Wo wir gerade dabei sind«, fuhr sie fort, »Olaf, ich weiß nicht, wie lange das gutgeht, nur von meinem Geld zu leben.«
Er sagte nichts, kaute sein Brötchen geduldig und ohne Hast, nahm das Ei, schlug es präzis auf und streute schließlich etwas Salz drauf.
»Geht's dir nicht gut?«, fragte er. »Geht es uns nicht gut?«
Was war darauf zu antworten? Es ging ihnen nicht gut, ihnen Dreien. Mina und Thommy, dazu Olaf. Sie hatten ihr Auskommen, aber es ging ihnen nicht gut.
Mina hatte ihre Liebesromane, die kriegte sie neuerdings in ihrem Aldi. Und sie hatte ihre Treffen mit ein paar Freundinnen, wohin sie regelmäßig Alkohol mitschleppte und Essen. Bei denen sie über alles und jeden herzogen und tratschten und sich die Mäuler verbrannten. Olaf wusste das, denn hin und wieder fanden diese Runden in ihrer Wohnung statt. Er versuchte dann immer, außer Haus zu sein.
Thommy hatte den Schulkram, und einmal im Jahr eine ausgedehnte Klassenfahrt, wenn er - verflucht nochmal - das Geld dafür nicht verlor.
»Es könnte uns besser gehen«, sagte Mina leise. »Vor allem Thommy.«
Olaf sog die Luft ein. Er trank seinen Kaffee und lehnte sich zurück. Eine Weile beobachtete er Mina, wie sie sich fahrig eine Zigarette aus der Schachtel angelte. Die nahm es wahr, ließ sich aber nichts anmerken.
»Thommy«, sagte Olaf langsam. »Ja.«
Mina schaute auf.
»Der Bengel wird immer wilder.«
»Findest du?«
Er setzte sich auf. »Ja, wild und frech.«
»Er ist fast zehn Jahre alt, Olaf! Ein Junge.«
»Eben, gerade mal zehn. Als ich so alt war, da gab es ...«
Er bekam mit, wie Mina die Augen verdrehte, das machte ihn natürlich wütend.
»Ich hätte mir das nicht leisten dürfen; was Thommy manchmal abzieht, es hätte was gesetzt, ohne Ansatz! Allein die Sache mit dem Taschengeld, ich hätte wochenlang nicht sitzen können.«
Das Gesicht seines Vaters, als er ihn wieder einmal vertrimmte. Dabei guckte er nicht anders, als beim Fernsehen; nur die aufeinandergepressten Lippen, die zitterten im Takt der Schläge.
Er steckte sich ebenfalls eine Zigarette an und merkte er, wie seine Finger flatterten.
Mina sah zu und sagte schließlich: »Der Junge konnte nichts dafür, wahrscheinlich haben sie ihn beklaut.«
»Dass du ihn in Schutz nimmst, das wird ...«
»Aber er kann wirklich nichts dafür!«
»Wer soll den Jungen erziehen?«, blaffte er. Mina zog sich sofort zurück, wie ein Vogel den Kopf einzieht.
Er streifte sich durch die Haare, dann stand er abrupt auf und riss beinahe das Geschirr vom Tisch. Mina war still und ordnete die Teller hinter ihm.

Am Nachmittag holte er Thommy von der Schule ab. Dazu postierte er sich auf einer Bank gegenüber im Stadtpark und beobachtete eine Weile die Kinder, die nach und nach herauskamen.
Thommy hatte es nicht eilig. Er bummelte hierhin, dorthin, plapperte auf seine Freunde ein und spielte Fußball mit einer Dose.
Olaf fiel ein Typ auf, der abseits lauerte, er erkannte ihn sofort, obwohl er nicht hätte sagen können, woran. Der Bursche von gestern Nacht.
Jetzt konnte er Einzelheiten ausmachen, die am Abend im Dunkeln geblieben waren.
Wieder stand der Mann wohl hundertzwanzig Meter entfernt und schien darauf bedacht, den Abstand zu halten. Er hielt sich auf der anderen Straßenseite auf, nicht weit vom Schultor, die Hände in den Taschen, den Blick starr auf Olaf gerichtet. Zumindest meinte er das, denn der Kerl hatte die Kapuze seines Hoodies übergezogen. Trotz des Aufzuges war Olaf davon überzeugt, einen alten Mann vor sich zu haben. Warum nur?
»Hi.« Thommy stand ihm gegenüber.
Er nahm den Jungen und sie fuhren zu McDonalds. Nicht weil Olaf das so wollte, er konnte mit dem Essen dort nichts anfangen. Thommy hatte ihm länger schon in den Ohren gelegen, warum sollte er ihm heute den Wunsch abschlagen?
»Aber nur einen Burger!«
Den Blick im Rückspiegel steuerte Olaf den alten Corsa durch den Verkehr, doch es war niemand auszumachen, der ihnen folgte.
Im Mäcces dann, nachdem Thommy den Hamburger gegessen hatte, startete der Kleine zum Spielplatz am Rand des Geländes. Ein Gelände, in der Tat: zweckmäßig und schmucklos, auf die schlichten Wünsche der Kunden zugeschnitten und in seiner grenzenlosen Funktionalität direkt an einer vielbefahrenen Bundesstraße gelegen.
Während Thommy sich beim Klettern vergnügte, trank Olaf Kaffee und beobachtete die Umgebung. So entdeckte er schließlich ihren Bekannten - richtig - die Kapuze übergezogen, schön den Abstand auf zwölf Zehner abgemessen und reglos, ihn im Blick.
»Wie lange stehst du schon da, Freundchen? Und was suchst du?«
Auf dem kargen Bürgersteig, der in die Stadt hineinführte, der natürlich kaum benutzt wurde, da hier jeder und alles mit dem Pkw herkam.
Die Kinder auf dem Gelände lärmten, scheinbar hatte sich Thommy mit einem rothaarigen Bengel angefreundet, mit einem Haufen Sommersprossen im Gesicht.
Der Alte war der einzige Mensch auf dem Gehweg, die dunkle Höhle der Kapuze ihm zugewandt. Er schien ihn zu beobachten.
Thommy kreischte, er lag am Boden, der sommersprossige Lümmel saß wie auf einem verdammten Gaul obendrauf.
Olaf drückte seine Zigarette im Ascher aus, spurtete zu den Beiden und riss den fremden Jungen von Thommy herunter.
Weiteres Gekreische. Das Pack wollte nicht voneinander lassen, Thommys Gesicht war in der Maske aus Rotz und Tränen von Wut verzerrt.
Olaf hatt Mühe, sie getrennt zu halten, dabei konnte er auch den Rothaarigen kaum bändigen. Er war einen ganzen Kopf größer als Thommy und genauso wütend.
Schließlich hatte er die Jungs soweit zurecht geschüttelt, dass sie halbwegs beruhigt waren. Sie atmeten beide schwer.
»Was ist bloß los?« Verblüffenderweise fühlte er sich ruhig.
Als sein Blick zur Straße ging, sah er seinen Begleiter wieder. Der hatte sich nicht fortbewegt, nur die Finger in den Seitentaschen des Hoodies versenkt und schien amüsiert.
Plötzlich bewegte er sich. Die rechte Hand griff nach oben, unter die Kapuze und strich durch die Haare. Olaf war fasziniert.
Dann ein Klatschen, ein trockenes Knacken, ein Poltern.
Er drehte sich zu den Bengels um, Sommersprosse lag am Boden. Er hielt sich das Gesicht und konnte das Blut, das munter hervorquoll, nicht aufhalten. Thommy stand über ihm und hatte den Kopf seinem Vater zugewandt.
Jetzt packte Olaf kalte Wut.

Es war voll im »Anker«und laut. Immerhin, am Freitagabend, trieb es die Klientel auf die Piste. Enrico hatte Siebziger-Jahre-Musik aufgelegt, die psychedelisch im Hintergrund waberte. Er stand als Einziger auf dieses Zeug.
Olaf saß schon am Stammtisch, Karsten kam etwas später dazu. Er hatte sich rasiert, die paar Flusen abgehackt, die gewöhnlich sein Kinn umwehten. Musste ein besonderer Tag heute sein.
»Hab da was für dich«, nuschelte er dann auch nach zwei Runden in sein Bier hinein.
Desmond Dekker quäkte sein »You can get it if you really want« aus den schmalen Boxen, und Olaf hätte kotzen können vor so viel guter Laune.
Er machte »Hmm«, obwohl er interessiert war.
»Nee, wirklich. Nicht übel, springt schön was raus dabei und nix zu tun.« Er trank einen Schluck. »Na ja, fast nix.«
Olaf sah ihn scharf an und beobachtete den flattrigen Blick seines Gegenübers. Jedenfalls konnte der ihn nicht ansehen.
»Was meinst du?«
»Einen Job, Olaf.« Er lachte. »Du brauchst doch Geld, hast du gesagt.«
So ohne Bartstoppeln sahen Karstens Wangen feist und rosig aus, er hatte zugelegt, auch wenn ihn das nicht interessierte. Karsten war fett geworden.
»Was ist es?«
Sie hatten beide immer wieder kleinere Dinger gedreht, im besten Falle halblegale. Einfache Einbrüche, Kurierdienste, Hehlereien, alles Sachen so, die gemacht werden mussten, für die sich die feinen Herren zu schade waren.
Karsten trank sein Bier aus. Zu besseren Zeiten stände schon längst ein frisches auf dem Tisch, aber die Zeiten waren halt nicht gut. Er wischte sich den Schaum aus dem dicken Gesicht.
»Was nun, Karsten. Machs nicht so spannend, was hast du für mich?«
»Sehr schön! Ich wusste, du bist interessiert. Pass auf, Miraç hat einen besonderen ...«
»Miraç?«
Die Musik war zu Ende, einen kurzen Moment herrschte Stille im Saal. Olaf starrte Karsten an und der glotzte zurück.
»Miraç? Hast du Miraç gesagt?«
Led Zeppelin begann mit »Whole Lotta Love« und die Atmosphäre kippte innerhalb einer Sekunde.
Karsten blinzelte und wandte sich ab.
Olaf beugte sich über den Tisch, griff nach seinem Kragen und zerrte ihn zu sich. »Hast du Miraç gesagt?«, zischte er. Ihm war egal, dass die Gäste sich umdrehten.
Karsten nickte.
»Bist du bescheuert?« Er ließ ihn los. »Miraç, Miraç! Du weißt genau, was passiert ist.«
»Olaf, nix is passiert. Das weiß jeder. Die Leute reden und reden, aber da ist doch nichts dran. Nichts ist passiert!«
Enrico kam mit zwei Bieren. Seine Schürze war fleckig und nass und er guckte mürrisch, ehe er die Gläser auf den Tisch stellte. Olaf musste sein altes noch austrinken.
»Du weißt sehr gut, dass Miraç das anders sieht«, knurrte Olaf.
Miraç war deutscher Staatsbürger. Oder Libanese? Türke, Armenier? Alles zusammen? Niemand wusste das, wahrscheinlich Miraç selber nicht. Es gab kaum jemanden, der danach zu fragen wagte. Er hatte eine Menge Untergebener und manch einer sprach von Ergebenen.
In jedem Falle war die Liste derjenigen, die sich mit Miraç anlegen wollten oder es getan hatten und noch lebten, nicht allzu lang. Nicht mehr.
»Olaf, das stimmt doch nicht. Miraç selbst hat mich gebeten, dir den Job anzubieten. Frag ihn, hat er gesagt, frag meinen Freund Olaf.«
Er lächelte.
Was sollte man von einem Kerl halten, dessen Tochter bei einem Verkehrsunfall jämmerlich krepiert war. Und der den Sohn des Mannes, über den alle Welt behauptete, er sei Schuld an dem Unfall, als Freund bezeichnete?
»Der Alte ist nur deshalb nicht abgestochen worden, weil er sich vorher totgesoffen hat.«
»Das kannst du nicht sagen, Olaf. Das stimmt einfach nicht. Miraç weiß, dass das damals irgend so ein durchgeknallter Irrer war. Nicht dein Vater.«
Olaf musste an die Gestalt im Hoodie denken. Nachmittags, als er Thommy vor dem McDonalds eine eingeschwenkt hatte, war sie verschwunden. Sie hatte nie existiert. Er hatte sich umgeschaut und gesucht, aber der Bürgersteig war leer gewesen. Plötzlich hatte er sich sehr einsam gefühlt.
Karsten guckte erwartungsvoll. »Jeder weiß, dass dein Vater nicht unbedingt der Bote Gottes war, dafür hat er eindeutig zuviel gesoffen.«
Ohne Frage, die Weste seines Alten war alles andere als rein gewesen, er hatte gezecht und gehurt, Gewalt war sein zweiter Vorname und er hatte Olafs Mutter ins Grab gebracht. Aber Miraç hatte ihn nicht gekriegt, das hatte der Senior selbst übernommen. Nach Olafs Dafürhalten gestaltete sich Leberkrebs in fortgeschrittenem Stadium als ganz üble Todesart.
»Und dass er oft genug kurz vorm Delirium hinterm Lenkrad gesessen hat, das wusste auch jeder.«
»Hör auf, Karsten!«
»Er war ein Scheißkerl, na klar. Aber ein ehrlicher, und er hätte dazu gestan...«
»Halts Maul!«
»You've been cooling and baby I've been drooling, all the good times, baby, I've been ...« Robert Plant gab sich alle Mühe.
»Meinst du, ich weiß nicht am besten, was war? Wie er sich aufführte?«
Er war sechs gewesen oder sieben, als ihn der Alte in die große Welt der Gewalt einführte. Er hatte ein Wurf Katzen aufgespürt und die Gefühle, als er sah, wie ihnen der Hals umgedreht wurde, eines nach dem anderen, mit gerade geöffneten neugierigen Augen, vertrauensvoll ins Licht blinzelnd und im nächsten Moment tot, waren ihm bis dahin und auch heute nicht vollständig erklärbar. Die Kätzchen taten ihm leid, doch es war faszinierend, das Leben zu nehmen, es zu können. Sie vermochten nicht, sich zu wehren.
Ohne dass sein Vater davon mitbekam, nahm er eines der Geschöpfe unter den Pullover, versteckte es und zog es in ihrem Schuppen groß. Er hegte und fütterte es und mehr als einmal legte er seine kleinen roten Fingerchen um den flauschigen Hals und drückte zu. Er ließ es am Leben, bis eines Tages ein Geländewagen gerollt kam und es tötete.
Das dumme Ding.
Ein Zwei-Meter-Typ drängte sich mit vollen Händen an ihnen vorbei und streifte Olafs Schulter unangenehm. Er blieb stehen und starrte herab, die Augen tief vergraben, die Miene finster.
Olaf wurde kleiner und wandte den Blick ab, schließlich zog der Schrank weiter.
»Also gut, willst du hören?« Karsten zischte, obwohl niemand anderes sie beachtete.
Olaf nickte.
»Pass auf!« Es klang, als wäre irgendetwas vollbracht, als sei die Sache schon abgeschlossen. Karstens Backen zitterten. »Du hast doch immer noch dein Gartenhäuschen da draußen im Laubinger Bezirk, wo es so ruhig ist.«
Olaf kniff die Augen zusammen, nicht einmal Mina wusste von dem Grundstück. Er hatte es gepachtet, lange bevor sie sich kennenlernten, das Häuschen darauf war eher ein Schuppen mit Gardinen vorm Fenster.
»Woher weißt du davon?« Er zog sich dahin zurück, wenn die Welt ihm zuwider war, wann immer Ruhe das einzige Mittel schien, dem Unrat zu entkommen.
Karsten grinste. »Vor zwei Jahren. Maria Himmelfahrt, wir beide beim Angeln.«
Musste er mehr sagen? Verflucht, dass er den Mund nicht halten konnte, wenn er voll war. Er hatte stets angenommen, der Filmriss von Karsten sei genauso lang gewesen wie sein eigener.
Er verzog das Gesicht. »Wem hast du davon erzählt?«
Das feiste Grinsen wurde breiter. »Keinem. Deshalb bist du mir auch sofort eingefallen.«
»Was willst du, Karsten?«
Karstens Stimme wurde noch etwas leiser. »Miraç hat 'n bisschen Scheiß, das 'n paar Wochen abkühlen muss.« Er setzte eine Kunstpause, dabei sah er Olaf von unten herauf an, wie eine Hure beim Blowjob. Er lag fast auf dem Tisch.
»Was für'n Scheiß?«
Jetzt richtete er sich wieder auf und zog die Nummer Zahnschmerzen ab. »Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen soll. Ist nicht so wichtig, du musst das Zeug nur aufbewahren.«
»Was für'n Zeug, Karsten?«
Die Zahnschmerzen wurden schlimmer, Olaf wusste, wann ihm was vorgespielt wurde.
»Lass es sein, Karsten«, sagte er schließlich und wandte sich dem Bier zu. »Ich bin nicht interessiert.«
»Pornos.«
»Pornos?« Seine Verblüffung war echt. »Damit kann man doch kein Geld mehr machen. Das Interesse dafür ist gleich Null. Überall im Netz wird dir Sex hinterhergeworfen.«
»Mit der Art Pornos schon.« Jetzt aalte Karsten wieder fast auf der Tischplatte und flüsterte konspirativ. Er schaute sich um.
Olaf lehnte sich zurück. Miraç machte in Pornos, das war interessant. Und ungewöhnlich, weil er sich selten die Hände beschmutzte. Außer freilich, er strafte Konkurrenten ab oder verlogenes Personal, da konnte er zu Höchstform auflaufen.
Und was würde Aslan dazu sagen, der sich doch gerade aufschwang, Miraç das Territorium streitig zu machen, wie man hörte.
»Miraç will dich natürlich vorher selber sprechen, das ist ja klar.«
Es schien schon ausgemacht, dass er das Zeug bei sich lagerte. Olaf trank einen langen Schluck Bier, er spürte Karstens Blick. Led Zeppelin kam langsam zum Ende.
»Was soll es da zu lagern geben? Pornos, das sind heutzutage Bytes und Megabytes. Nur die ganz alten Säcke bunkern ihre Filme noch im Schrank. Es gibt Festplatten, Karsten, Sticks, Speicherkarten. Ist doch nicht mehr wie vor zwanzig Jahren.«
»Meinst du?«
Sein Wissen ging eindeutig weiter, als er aussprach, wenigstens tat er so.
»Du hast keinen Schimmer, Olaf. Der Markt besteht vor allem aus alten Säcken, zumindest bei der Art Pornos. Widerliche Männer mit zitternden Händen, die Null Ahnung von Technik haben. Wenns nicht zu sperrig wäre, würden die noch auf VHS glotzen.«
»Wovon reden wir? DVDs, Blue Rays?«
»In der Mehrzahl DVD.«
»Was ist drauf zu sehen?«
»Olaf.«
Für einen Moment fiel die Maske, doch sofort war sie wieder da. Er wusste nicht einmal sicher, ob er diese Information überhaupt wollte.
»Wie viel?«
»Das musst du mit Miraç besprechen, ich soll dich nur vorbereiten.« Er sah sich nach Enrico um, hob sein leeres Glas und wackelte damit in Richtung des Wirts.

Auf dem Nachhauseweg versuchte Olaf, wieder herauszukriegen, wer ihn da verfolgte.
Wie es schien, ließ der Typ die Entfernung zwischen ihnen beiden nie unter hundert Meter schrumpfen, so dass es unmöglich war, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Er hatte natürlich den Kapuzenpullover an.
Zuerst blieb Olaf demonstrativ auf der Straße stehen, mitten auf der Fahrbahn, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine breit, und starrte den Burschen an. Der Alkohol machte ihn mutig und ein wenig wütend, so dass er es drauf ankommen ließ.
Doch der Kerl stand genau so still, das schwarze Loch der Kapuze stierte zurück.
Dann versuchte Olaf, ihm aufzulauern. Er versteckte sich in der Mühlengasse in einem Hauseingang, der Kumpel konnte ihn einfach nicht beobachtet haben. So wartete er im Halbdunkel, darauf gefasst, jeden Moment herauszuspringen und dem Knaben die Haube herunterzureißen.
Irgendwann dauerte es zu lange, und ihm dämmerte, dass das nicht passieren würde. Er beugte sich vor und hundert Meter weiter stand der Typ so reglos, wie ein verdammter Kleiderständer.
»Hey, Arschloch! Was willst du?«
In der Nacht klang seine Stimme doppelt laut.
Keine Reaktion.
Wäre er weniger betrunken gewesen, hätte Olaf die Gestalt am anderen Ende der Straße für ziemlich unheimlich gehalten. So kam ihm nur der Gedanke, dass das vielleicht einer von Miraç' Männern sei, der ihn überprüfen sollte.
Er drehte sich um und schlurfte nach Hause.

Schon als er aufschloss, spürte er, dass alles sich verändert hatte. Die Wohnung war so leer, es gab nicht einmal einen Abschiedszettel. Außer seinen ungewaschenen Sachen hatte sie kaum etwas dagelassen.
Nachdem er in Ermangelung an Mobiliar unter Gebrüll die Badtür zerdroschen und dem aufgeregten Nachbarn Drohungen hinübergeschrien hatte, setzte er sich im Kinderzimmer – im ehemaligen Kinderzimmer – auf den Fußboden und flennte. Während er seine blutende Hand rieb.
Sie war wirklich ausgezogen, wie hatte sie das nur möglich gemacht in der kurzen Zeit? Sie hatte ihn verlassen, war untreu geworden, das Weib.
Er versuchte, sie zu erreichen. Das Handy klingelte, vier Mal, fünf Mal, dann wurde unterbrochen. Er probierte es wieder, und noch einmal. Beim vierten Versuch kam gar keine Verbindung mehr zustande. Er musste sich zurückhalten, das Telefon gegen die Wand zu dreschen, er hatte nur dieses.
Ihm war überhaupt nichts geblieben.
Zusammengerollt auf der Erde schlief er ein und wurde geweckt, noch ehe die Sonne aufging. Von seinem Handy.
Mina.
Er schrie: »Sag mal, bist du bescheuert oder was?!«
Sie drückte ihn sofort wieder weg.
Schlagartig hatte er einen kühlen Kopf. Er ging ins Bad, schaufelte sich eiskaltes Wasser übers Gesicht und suchte sich aus dem Klamottenstapel Sachen heraus, die noch am wenigsten müffelten. Als er beim Zähneputzen war, klingelte das Handy erneut.
»Hast du dich beruhigt?«
Er presste etwas zwischen den Zähnen hervor, das sich nach »Ja.« anhören sollte.
»Ich habe dich verlassen«, sagte sie, sonst nichts.
Er war nicht sicher, ob er eine Frage stellen durfte, doch sie ahnte, was er wollte.
»Weil du nicht mehr du selbst bist.« Wieder eine Pause, eine Provokation?
»Was soll das heißen?«, krächzte er.
»Das heißt, dass du meinen Sohn schlägst, Olaf. Du hast ihn fast krankenhausreif geprügelt. Ein Kind!«
Olaf lachte. »Er hat sich aber nicht wie ein Kind verhalten. Er hat irgend so einem Bengel eine verpasst. Da musste ich was tun.«
»Doch nicht so!«
»Er muss lernen, was es heißt, zu gehorchen!« Das war wohl etwas lauter gewesen, denn Mina hatte wieder aufgelegt.
Er verdrehte die Augen und ließ das Handy fallen.
Zwanzig Minuten später versuchte er noch einmal, sie zu erreichen. Schon nach dem zweiten Klingeln ging sie ran.
»Ich war mit Thommy beim Arzt«, sagte sie leise. Er konnte hören, dass sie weinte.
»So schlimm kann es nicht sein«, erwiderte er betroffen. »Es war doch nur eine Schelle.« Fing er jetzt etwa selber an zu heulen?
»Das ist es nicht, Olaf. Er hat ADHS, verstehst du? Er ist krank.«

Es war Vormittag, als er seinen Sohn beobachtete. Das Leben in der Stadt erwachte gerade erst, die Parkbank, von der aus er Thommy zusah, wie er mit Klassenkameraden über den Pausenhof tobte, stand noch einsam gegenüber.
ADHS, dachte Olaf, eine Krankheit. Lächerlich! Der Junge war wild, er war frech und rüpelhaft. Er brauchte eine harte Hand.
Doch er wollte Mina zurück. Wie er sie am Telefon hatte weinen hören, da wurde ihm bewusst, dass sie nicht für endgültig gegangen sein konnte.
Der Junge raste über den Schulhof schneller als alle anderen, rempelte seine Klassenkameraden an und wurde nach wilder Hatz gestoppt von einem Lehrer, der ihn mit großen Gesten zurechtwies. Thommy senkte den Kopf und verzog sich an die umzäunte Grenze des Geländes.
Auftritt des Alten im Hoodie. Olaf nahm zuerst nur am Rande wahr, wie er sich langsam dem Schulgelände näherte.
Als er dann realisierte, was er sah, wollte er aufspringen und Thommy warnen.
Eine behaarte Hand hielt ihn zurück – Miraç saß neben ihm, breitbeinig in Jogginghosen, mächtig und lächelnd, den quadratischer Schädel nach vorne gewandt.
Auch wenn sie volltönend war, klang Miraç' Stimme fast wie ein Flüstern. »Bleib doch. Wir haben was zu bereden.«
Die Hand ließ er auf Olafs Arm.
Olaf wagte nicht, sich zu Miraç zu wenden, einerseits, weil man Miraç nicht so ohne weiteres anstarrte. Zum anderen konnte er den Blick nicht von seinem Sohn lassen. Und der Gestalt, die sich ihm gleichmütig näherte.
Miraç' Brustkorb hob und senkte sich in gemächlichem Tempo, er schaute in dieselbe Richtung, doch offensichtlich sah er den Alten nicht.
Irgendwo in der Nähe mussten sich die Burschen von Miraç aufhalten, das wusste Olaf, er konnte sie nur nicht sehen.
»Du brauchst Geld, Olaf?«
Er nickte, indes hätte er das unterlassen können, Miraç schien ihn gar nicht zu beachten.
»Es ist nicht gut, wenn meine Freunde Geld benötigen.« Er wandte Olaf das Gesicht zu. »Du verstehst?«
Olaf antwortete nicht, er schlug den Blick nieder.
»Das macht sie anfällig, nicht wahr? Für Versuchungen, ja? Versuchungen aller Art.«
Olaf hatte Miraç bis jetzt nur einmal getroffen, und bei der Gelegenheit war ihm nicht aufgefallen, wie unglaublich blau dessen Augen leuchteten.
Sein Ruf jedoch war allgegenwärtig. Was sollte er davon halten, dass es hieß, Miraç hätte immer eine stumpfe Machete dabei? Stumpf vor allem, um dem Opfer die Leidenszeit zu verlängern.
Konkurrenten oder verlogenes Personal.
Aslan? Wie passte der hier rein, mit seinen Gebietsansprüchen und den radikalen Maßnahmen? Olaf fühlte sich unwohl.
Die Beiden atmeten ruhig nebeneinander. Der Alte im Hoodie war stehengeblieben und beobachtete Thommy. Sein Sohn hatte ihn bisher nicht bemerkt.
Im nächsten Moment befand sich der Kerl am Zaun und hatte den Jungen angesprochen.
»Bleib sitzen«, knurrte Miraç. »Wir sind noch nicht fertig. Hast du mit Karsten gesprochen?«
Er nickte.
»Was hat er gesagt?«
»Dass du ein Geschäft für mich hast.« Olafs Kehle war knochentrocken. Der Alte sprach mit seinem Sohn, machte aber keine Anstalten, sich ihm weiter zu nähern.
»Mehr nicht?«
»DVDs.« Er hätte etwas trinken sollen, bevor er herkam.
Miraç schwieg; wenn Olaf jetzt aufsprang, konnte er dem Libanesen wohl entkommen. Doch die Häscher wären bei ihm, ehe er Drogenboss hätte sagen können.
Schließlich bewegte Miraç sich schwerfällig und sah ihn wieder an. Olaf versuchte, sich ihm zuzuwenden und gleichzeitig seinen Sohn nicht aus den Augen zu verlieren.
»Und.« Das Flüstern war eine zusätzliche Oktave tiefer. »Was sagst du?«
»Ich machs, Miraç«, krächzte Olaf. »Ich kann die Dinger lagern.«
»Moment.« Als schalte man eine Lampe an, erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des Libanesen. »Wir haben noch gar nicht über die Konditionen gesprochen.«
Der Alte griff nach Thommy, Olaf spannte sich an, Miraç' Ausdruck wurde wieder finster.
»Woran hast du gedacht?«
Die Gestalt da unten tätschelte Thommy den Kopf, der Junge ließ es geschehen. Beide Figuren standen so eng nebeneinander, dass Olaf hätte schreien mögen.
»Falsch, Olaf. Was würdest du dir vorstellen?«
Er war nicht fähig zu denken. Sein Sohn wurde von einem Fremden bedroht und der Vater konnte nicht helfen, weil so ein verrückter Krimineller neben ihm saß und ein windiges Geschäft abschließen wollte.
»Ich weiß nicht«, stotterte er. »Du hast da mehr Erfahrung, Miraç. Sag du!«
Unversehens eine Bewegung.
Er hätte auflachen mögen. Da war Mina über Nacht ausgezogen, hatte ihn verlassen und alles mitgenommen. Sie hatte einmal in ihrem Leben eine Schelle verteilt und ausgerechnet ihn getroffen. Doch jetzt kam sie wie ein Engel mit dem Auto angefahren, parkte den Wagen direkt gegenüber und überquerte die Straße, als sei es das Normalste der Welt. Der Alte zog sich zurück, ohne eine Spur zu hinterlassen, Mina schien ihn nicht einmal bemerkt zu haben. Ja, es war das Normalste der Welt, so sollte es sein.
Er wandte sich Miraç zu, der ihn erwartungsvoll ansah. Welche Zahl hatte der nur genannt? Er hatte gar nicht darauf geachtet.
»In Ordnung, Miraç.«
Der Libanese glaubte allen Ernstes, Olafs Freude wäre wegen der Summe, von der sie eben gesprochen hatten. Doch Olaf konnte sich nicht konzentrieren. Thommy stieg mit seiner Mutter in den Corsa und ohne Umschweife fuhren sie fort.
Wo befand sich der Alte?
Er stand abseits unter einer Kastanie und tat unbeteiligt wie eh. Die Arme hingen schlaff herab, die ganze Haltung drückte Passivität aus.
Es knallte. Miraç hatte in die Hände geklatscht und hielt ihm nun seine Rechte hin.

Es war nicht leicht in den folgenden Tagen. Er hatte Miraç wegen eines Vorschusses gefragt, doch der schien es gar nicht gehört zu haben. Er war aufgestanden, mit eckigen Bewegungen gegangen und schließlich ohne Zögern in den schwarzen Cayenne eingestiegen, der quietschend zum Halten kam.
Olaf besorgte sich ein paar Euros; er hatte Freunde, die ihm verpflichtet waren. Ein wenig Nachdruck und er konnte einige Schulden davon eintreiben.
Er saß in der leeren Wohnung und telefonierte mit Mina (das Ladekabel hatte er sich auch besorgen müssen). Er hörte ihr zu, manchmal sprach er. Hin und wieder wurde er wütend, dann legte sie auf, und wartete drei, vier Stunden, bis sie erneut anrief. Er fragte, ob er Thommy sprechen könnte. »Nein«, sagte sie. »Noch nicht.«
Er erhob sich vom Fußboden, seine Knie schmerzten, und er musste ein paar Schritte laufen. Draußen war es dunkel, unten auf der Straße stand die Gestalt mit Kapuze wie ein Bruder von ihm.
Drei Tage später meldete sich Karsten.
Er kam im Auto vorbei und gemeinsam fuhren sie auf mäandernden Wegen in den Laubinger Bezirk. Hier war es menschenleer, der Winter hatte alle vertrieben. Kahle Obstbäume erwarteten sie und graue Rasenflächen.
»Super«, sagte Karsten, während er zwei große Kartons herauswuchtete. Er sah sich um, dann half er Olaf beim Tragen der Kisten.
Sie mussten sie durch den Garten schleppen, der Schuppen lag ganz am Ende des verwaisten Geländes.
»Was macht die Frau?«, fragte Karsten, als sie wieder am Auto standen, um sich zu verabschieden. Er lehnte an dem Gerätebrett, das irgendein Gutmensch vor einer Million Jahren am Eingang angebracht und der gesamten Gartensparte gewidmet hatte. Ein verrosteter Spaten hing noch dran und schaukelte melancholisch unter Karstens Gewicht.
»Du musst ihr zeigen, wo die Eier hängen!«, sagte er. Es war nicht sicher, ob er es ernst meinte.
Als er fortfuhr, sah Olaf die Gestalt mit Kapuze am Ende der Straße. Er winkte resigniert, die Person rührte sich nicht.
Die folgenden Tage verbrachte er in dem kleinen Schuppen gemeinsam mit den Kartons. Er hatte hier alles, was er brauchte und das war nicht allzu viel.
Die beiden Kisten standen in einer winzigen Kammer neben der Eingangstüre, es hätten zwei Waschmaschinen drin sein können. Er wollte nichts damit zu tun haben.
Karsten hatte vor, sich zu melden, wenn er sie abholen kam. »Wann?«, hatte Olaf ihn gefragt.
»Eher Wochen als Tage, denke ich.«
Die Sonne zeigte sich wieder länger, Olaf verbrachte die Zeit damit, den Fremden zu beobachten. Es war ziemlich sicher ein alter Mann, er kannte ihn nicht, aber etwas Vages in seinen Bewegungen, irgendetwas Unbestimmtes in den Gesten sagte ihm, dass sie einander schon begegnet waren.
Er ging hinaus, machte sich einen Spaß daraus, den Burschen über die Wiesen vor sich herzutreiben. Es kam dem Gefühl Freude sehr nahe, als er sich abrupt umdrehte und einem Irren gleich in die entgegengesetzte Richtung raste. Und dann wieder retour.
Irgendwie schafft es der Alte, Schritt zu halten und den Abstand zu ihm ziemlich exakt zu wahren. Es war nicht zu erkennen, woher er den Atem nahm, aber er hielt mit, spielend, wie es schien und ohne jede Anstrengung.
Sie begegnete ganz wenigen Menschen; und diejenigen, die sie sahen, wandten sich befremdet ab. So wurden sie vertraut miteinander, auch wenn sie – gleich den Königskindern – nicht zueinanderfanden.
Er hatte anfangs sogar die Idee, Karsten einzuweihen, ihn zu bitten, den Typen anzusprechen, denn er müsste sich ihm sicher nähern können. Doch er verwarf den Gedanken wieder.
Stattdessen jagte er den Alten regelrecht. Er hatte sich seine antiquarischen Nikes angestreift, was er an lockerer Kleidung fand, übergeworfen und war losgejoggt.
Sein Begleiter zeigte sich immer gut gelaunt, stetig wich er zurück ohne Hast, doch in derselben Geschwindigkeit, die er selbst vorlegte.
Trabte er über den Acker, zuckelte der Alte gemächlich vorneweg. Legte er einen Spurt ein, der Kapuzenmann vor ihm sprintete wie der Teufel davon.
Olaf war nie der gute Läufer gewesen, Kondition kannte er nur aus dem Fernsehen. Doch hier gab er alles und noch ein wenig mehr. Er rannte und rannte, die Schornsteine des Industriegebietes lagen weit hinter ihnen. Wenn er glaubte, die Distanz hätte sich verringert, musste er in der nächsten Sekunde einsehen, dass er sich täuschte.
Es war toll, es war skurril, er war nicht sicher, ob er träumte. Sämtlich, was er früher darstellte, hier war es vereint.
Die Luft blieb ihm weg, der Körper schmerzte, die Augen tränten. Er war längst über seine Grenzen gegangen. Dann gab es den Moment, an dem er nicht mehr konnte: Er brach nicht zusammen; er stand einfach inmitten eines unbekannten Waldstückes, vornübergebeugt, auf die Knie gestützt und keuchte um sein Leben.
Schließlich schaffte er es, aufzublicken. Hundert Meter den Weg entlang: die Gestalt, reglos, die Kapuzenöffnung in seine Richtung gewandt, in provokant lockerer Haltung.
»Wer bist du?!«, schrie Olaf, soweit es die Lungen zuließen. »Verdammt, was willst du von mir?«
Er begann zu weinen. Oh nein, das wollte er ganz sicher nicht, nicht in dieser Form! »Lass mich endlich in Frieden! Lass mich in Ruhe, du Mistkerl!«
Der Alte rührte sich nicht, bis er in einer flüssigen Bewegung mit der Hand über den Kopf strich. Und unwillkürlich, aber doch eine Geste des Verstehens, der Verschränkung, fuhr Olafs eigene Rechte durch die Haare, eine Eigenart, vierzig Jahre alt.
Das Telefon klingelte, ein unmöglicher Klang inmitten der Stille: Karsten.
Olaf nahm an. Auf der anderen Seite war nichts zu hören.
»Ja, Karsten?« Er sprach gedämpft, die Hand an der Muschel, ein Auge zu der Gestalt da vorne.
Er hörte es atmen, leise zunächst, dann immer lauter. Schließlich meinte er sogar, jemand weinte am anderen Ende.
»Karsten?«
Abrupt wurde die Verbindung unterbrochen.
Zurück in der Datsche war es fast dunkel. Das funzlige Licht an der Zufahrt zum Garten über dem Gerätebrett wirkte ungesund und schmutzig. Er sah sich um, bevor er das Häuschen betrat: Der Alte stand am Eingang, als hielte er Wache.
Mina rief an. Er hatte den Eindruck, sie wolle ihm etwas Wichtiges mitteilen, doch schließlich tauschten sie nur Belanglosigkeiten; Olaf rastete nicht aus, er wurde nicht einmal wütend.
Er hatte gerade aufgelegt, als Karsten erneut anrief. Wieder atmete jemand am anderen Ende, der schwieg und offensichtlich weinte.
»Karsten! Melde dich, was ist los?«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Er warf einen Blick durch das schmutzige Fenster, der Alte stand noch immer auf Posten im Neonlicht.
Um dreiviertel zwei wurde Olaf geweckt. Das Handy summte, am Hörer war wieder nur Schweigen.
Er wollte den Anruf entnervt wegdrücken, als der andere Teilnehmer zu schluchzen begann und schließlich selbst auflegte.
Wütend schmiss er das Telefon aufs Bett, doch aus einem unguten Gefühl heraus rief er noch einmal zurück.
Schon beim ersten Klingeln wurde angenommen.
»Olaf?«
»Karsten, was soll...«
»Olaf, du musst da sofort weg!« Karstens Stimme war ein Brei aus atemloser Rührseligkeit, er war kaum fähig zu sprechen. Und doch versuchte er, in einem Zug so viele Informationen loszuwerden wie möglich.
»Du bist in Gefahr, du musst weg! Beeil dich, Olaf, bitte!«
Abermals Schluchzen, Olaf nutzte die Gelegenheit. »Was ist los, Karsten, was ist nur los?«
Stille auf der anderen Seite, tiefes, gequältes Atmen dann.
Olaf sprang aus dem Bett, knipste das Licht an. Sofort löschte er es wieder.
»Sag mir endlich, was geschehen ist!«
»Oh Scheiße! Scheiße, Scheiße! Olaf, du musst da weg!«
»Warum, Karsten, warum! Was ist passiert?«
Das Handy ans Ohr geklemmt, zog er sich an, versuchte, sich im Dunkeln zurechtzufinden.
»Diese Scheiß DVDs, Olaf. Die DVDs, Olaf, die sind von Aslan!«
Stille. Er blieb stehen, nahm das Telefon in die linke Hand und sprach die Information vor sich hin.
»Aslan, sagst du? Miraç hat sie Aslan geklaut?«
»Ja.«
»Okay, ich muss sie loswerden.« Er zog sich weiter an, ruhiger jetzt. »Bevor Aslan davon Wind kriegt.«
»Er weiß es.«
Wieder Stille.
Karsten in trockenem, sehr beherrschtem Ton: »Sie sind unterwegs.«
Olaf konnte spüren, wie sein Herz in den Galopp wechselte, der Puls am Hals raste.
Karsten dagegen war jetzt merklich gefasster. »Aslan hat Leute geschickt, die DVDs zu besorgen.«
Olaf drückte aus. Für drei Sekunden gestattete er sich, seine Gedanken zu ordnen, dann legte er los.
Er hatte nicht viel zusammenzuraffen, das Handy, Ladekabel, Papiere.
Ein Blick nach draußen. Dunkelheit, keine Bewegungen. Der fahl-gelbe Lichtfleck am Garteneingang war leer, der Alte fehlte.
Olaf warf sich die Jacke über, sollte er von den DVDs einige mitnehmen? Nein, er wollte mit den Dingern nichts mehr zu tun haben.
Vorsichtig öffnete er die Türe, ohne Quietschen schien das kaum möglich. Ein leichter Wind zog, der die kahlen Obstbäume zum Schwingen brachte.
Als er draußen war und sich umwandte, hörte er einen Wagen. Die Schwachköpfe kamen tatsächlich bis vorgefahren.
Er schlüpfte zurück in den Schuppen, schloss die Tür mit Bedacht und lehnte mit dem Rücken dagegen.
Verloren! Er kam hier nicht ungesehen heraus, das war die reinste Falle. Am besten, überlegte er, übergab er die Kisten ohne viel Tam-Tam und hoffte darauf, dass die Typen wenigstens einige seiner Glieder intakt ließen. Die Leute von Aslan waren allerdings bekannt dafür, dass sie ungern Gefangene machten.
Er spähte durchs Fenster. Zwei Schränke standen im Licht, vielleicht achtzig Meter entfernt neben einem schwarzen Cherokee. Dunkle Kleidung, Handschuhe und Sonnenbrillen. Im Dunkeln! Eindeutig Aslans Männer, er war in einen Scheiß Bandenkrieg geraten.
Die Typen sahen sich um, berieten offenbar miteinander und schauten dann in seine Richtung.
Er wandte sich um, wollte sich eben aufmachen, aus dem rückwärtigen Fenster zu verschwinden, als er sich, gleich in einem Traum, noch einmal umdrehte.
Der Alte schwebte wie ein Schatten hinter den Beiden. Er bewegte sich nicht, stand nur da und wartete. Die Männer schauten hinüber; er war nicht sicher, ob sie ihn an der Scheibe entdeckt hatten.
Einer der Zwei wandte sich langsam rückwärts, der andere tat es ihm nach. Offenbar sprachen sie den Alten an, doch der regte sich noch immer nicht. Olaf meinte zu erkennen, wie er atmete.
Der Linke tat einen Schritt auf den Kapuzenmann zu, machte eine aggressive Geste und im nächsten Moment hatte er sich eine gefangen. Im Sinne dieses Wortes, denn er schleuderte herum und landete auf der Erde.
Der Zweite griff blitzschnell an den Hosenbund, doch der Alte hatte seine Hand gepackt, und zerrte sie hoch. Er riss ihm den Arm auf den Rücken, immer weiter, höher. Kein Schmerzenslaut war zu hören. Sehr wohl aber ein erschütterndes Knacken. Der Typ fiel auf den Boden neben seinen Kameraden.
Dann trat der Alte zu, brutal und ohne Rücksicht. Olaf wollte sich abwenden, konnte es jedoch nicht, er sah, dass die beiden Körper nur noch aus Reflex unter den Tritten zuckten.
Selbst als der Alte sich umdrehte, den Spaten vom Brett riss und sich breitbeinig über einen der Typen stellte, die Schaufel hochhob und alle Muskeln anspannte, vermochte Olaf sich nicht zu bewegen. Doch während der Spaten niedersauste, wirbelte er mit leisem Aufschrei herum, schloss die Augen und presste den Rücken gegen die Tür. Er konnte schwören – bei Gott! – dass er ein ekelhaftes Knirschen vernahm.
Und noch eins und noch eins.
Dann war Ruhe, bis auf das Pfeifen in seinen Lungen.
Es brauchte Minuten, sich zu beruhigen, halbwegs. Vorsichtig drehte er sich um und spähte aus dem Fenster. Der Alte stand ruhig und gelassen wie immer, die beiden Klumpen zu Füßen bewegten sich nicht.
Nach einer Ewigkeit, in der sich nichts tat, öffnete er die Tür behutsam und schob sich langsam heraus. Keine Bewegung.
Er ging den Pfad durch den Garten, der Kies knirschte als einziges Geräusch unter seinen Schuhen. Der Alte entfernte sich im selben Tempo.
Er drehte den Kopf weg, wollte es nicht sehen, krampfhaft versuchte er, den schwarzen Wagen im Auge zu behalten.
Es knackte, als er auf eine Sonnenbrille trat, und im nächsten Augenblick bewegte sich das eine der Bündel am Boden. Ganz leicht nur, begleitet von einem Röcheln.
Als er gegen seinen Willen doch hinuntersah, konnte er im Moment nichts erkennen, nur Schwarz. Und Rot, das unter Pfeifen kleine Bläschen schlug.
Das Knäuel stöhnte noch einmal.
Olaf schritt voran, während er das Handy herauszog. Er musste hier weg, so viel stand fest, er musste dieses Leben hinter sich lassen.
Er rief den Notruf an, gab leise seinen Standort und die wichtigsten Informationen durch, und ging gleichzeitig immer weiter, dem alten Mann hinterher. Der sich ebenso stetig bewegte.
Das war ein Weg, unbefestigt, die Zufahrt zu der Gartenkolonie. Eine Lichtung im Wald.
Olaf verharrte im Dunkel, die Figur ihm gegenüber war vom Mondlicht schwach beleuchtet.
Scheinwerfer fraßen sich durch das Nichts, ein großer Wagen preschte heran, blieb auf Höhe des Alten stehen. Miraç' schwere Gestalt wuchtete sich aus dem Fahrersitz, trat in den Lichtkegel.
Wie im Schattentheater standen die beiden Silhouetten einander vis-à-vis und bewegten sich für Sekunden nicht. Eine im Hoodie und Kapuze, und der Libanese mit geöffneter Lederjacke.
Dann lächelte Miraç und zog in einer geschmeidigen Bewegung einen langen Gegenstand unter der Jacke hervor. Es herrschte Stille in dem Moment, nur das Knarren des Leders war zu vernehmen.
Das Mondlicht zauberte einen wunderschönen Effekt auf die Klinge, als er die Machete in die Höhe hob. Mit Schwung ließ er das Messer durch die Luft schwirren, der Schlag war gut gesetzt. Aber nicht endgültig.
Der Alte stöhnte, schwankte leicht und griff sich an den Hals. Langsam zog er die Kapuze herunter und drehte das Gesicht zu Olaf. Er lächelte, schwarze Zähne waren sichtbar, die Züge schien uralt.
Dann der zweite Hieb, besser platziert, doch der Kopf nicht vollständig abgetrennt. Die Gestalt sackte widerstandslos in sich zusammen und blieb ebenso unspektakulär liegen.
Olaf kam der Gedanke, dass der Mann nun die Kommunion erhalten hatte, während ein Schluchzen ihm aus dem Brustkorb drang.
Wie in einem schlechten Film wischte Miraç die Klinge an seinem Opfer sauber, ging locker um den Wagen herum und stieg ein. Der Motor lief, und so fuhr er ohne Verzögerung an.
Er stoppte auf Olafs Höhe, der schweigend auf der Lichtung stand, lehnte sich aus dem Fenster und sah zu ihm auf.
»Sei froh, Schwachkopf.« Wieder dieses intensive Flüstern. »Du weißt es noch nicht, aber ich habe dich befreit.«
Die Scheibe surrte hoch und ebenso geschmeidig fuhr der Wagen davon.
Olaf blieb im Dunkel.

Der Tag war sonnig und hell.
Das Handy klingelte, Olaf nahm es von der Parkbank neben sich und ließ kurz seinen Sohn aus den Augen.
Mina.
»Hör zu, Olaf, ich habe nachgedacht.«
»Ja, Mina?«
»Du musst versprechen, dass du dich im Griff hast, du darfst die Konflikte nicht mit Gewalt lösen, begreifst du? Keine Gewalt!«
»Ja, Mina. Ich verstehe.« Er blickte sich um. »Ich gebe mein Bestes.« Eine Träne lief sein Gesicht hinab.
Die Gestalt im Hoodie, etwa hundert Meter entfernt, schien ihn zu beobachten.



Juli 2018/ 16. Februar 2020