Lebewohl

 

 

Das Haus machte einen soliden Eindruck; es stand ein wenig abseits des Ortes an der Straße, wie ein einsamer Soldat. Das Mauerwerk war dunkel und die Fenster klein.

Ein Tor, das man kaum öffnen konnte und der Hof dahinter – aufgeräumt und sauber wie ein frisch gesäuberter Tanzsaal.

Hinter dem Hof, an einem Schuppen vorbei und von der Straße aus nicht einzusehen, eine Wiese, nahezu unberührt und sattgrün, voller Leben am Boden. Nur hier und da kreisrunde Flecken, die das Gras abgemäht zeigten, einem Muster gleich, das ein Riese mit einer Kaffeetasse zu verantworten hatte.

Und in einem dieser hellgrünen Kreise ein Schaf, in der Mitte angepflockt und dazu verdammt, nur das Grün vertilgen zu können, das sich in seiner Reichweite befand. Es schaute auf und wandte den stoischen Blick den Weg hinauf, der vom Haus herunterführte. Jemand kam.

Der Alte, der vorsichtig den Weg hinabstieg, hatte seinen besten Anzug an. Er war sauber gekämmt und hatte sich so gut es ging rasiert. Hier und dort waren der Klinge einige Stoppeln entgangen und zeugten nun von den zittrigen Händen während der Rasur. Die wenigen Kopfhaare waren feucht und sauber zurückgekämmt. Seine Augen glänzten.

Er ging auf das Tier zu. Die Kreatur zeigte zwar kaum eine Regung, aber man spürte, dass sie zumindest erwartungsvoll, wenn nicht freudig war.

Der Alte ging auf das Schaf zu und streichelte kräftig über das verfilzte, schmutzige Fell. Er klopfte ihm gutmütig auf den Rücken und es stemmte sich dagegen und genoss die Liebkosung.

„Scheinst jedes Mal zu denken, ich komme nicht wieder“, brummte der Alte. Er trat ein Stück zurück. „Vorsicht! Du machst mich dreckig!“

Während er versuchte, das Tier abzuwehren, ging er in die Mitte des Kreises und begann, den Pflock, an dem die Kette befestigt war, zu lösen. Angestrengt zerrte er daran, rüttelte und riss, um das Holz aus dem Boden zu bekommen.

„Das ist das letzte Mal“, ächzte er. „Das letzte Mal, dass ich das hier mache.“

Endlich hatte er den Pfahl gelöst und zog ihn immer noch rüttelnd aus der Erde. Er richtete sich auf und sah dem Schaf in die Augen.

„Warum erzähle ich dir das? Unterhalte mich mit dir wie mit ’nem Menschen. Lächerlich!“

Er zog die Kette fester und so das Tier zu sich heran. „Komm!“

Das Schaf wusste, worum es ging und trottete folgsam hinter dem Alten her. Gemeinsam bildeten sie nun eine kleine Prozession, die an diesem Morgen etwas Feierliches an sich hatte. Er führte das Schaf zu neuem Futter.

„Weißt du“, fuhr der Mann fort, während er zum Schuppen hinüberging, wo er einen Fäustling abgelegt hatte. „Das mache ich jetzt schon seitdem du hier bist – mit dir reden. Blödsinn das, kann ich mir nicht abgewöhnen. Als wenn du mich verstehen könntest.“

Er kehrte zurück, mit dem Hammer in der Hand. Das Schaf hatte schon begonnen, das frische Grün abzufressen, und ließ sich auch dann nicht stören, als der Alte die Stange in den Boden einschlug.

„Aber was will man machen, man muss mit jemandem reden, und wenn es ein Wollknäuel ist. Als Else starb, vor einem halben Jahr, ging’s mir nicht gut. Die Zeit war schlimm, niemand da. Damals habe ich gehofft, Erika nimmt mich zu sich.“

Er ging langsam in die Hocke und prüfte die Kette. Dann sah er dem Tier beim Fressen zu, ganz dicht am Boden, ganz nah.

„Doch sie hat anderes zu tun gehabt. Die Kinder und die Arbeit in der Bank, man will ja Karriere machen. Kann ich verstehen, denke ich. Ich weiß noch, wie sie früher immer über diese Wiese hier zurückgekommen ist vom Spielen. Die Haare völlig verwuschelt, die Sachen verdreckt und rot im Gesicht, aber immer noch im Hopserlauf. Oft genug hat sie gelacht, wenn sie zurückkam. Aber die paar Male, die sie weinend heimgekehrt ist, sind mir im Gedächtnis geblieben.“

Das Schaf zeigte kein Interesse. Es hatte seinen neuen Weideplatz erhalten und zog die Grasbüschel zwischen die Lippen, ohne sich stören zu lassen.

„Mir fallen in letzter Zeit immer öfter solche Sachen ein. Erika im Schweinestall, wie sie mir hilft. Das Kind mit seinem ersten Fahrrad, zusammengebaut aus alten Teilen. Sie hat den ganzen Abend vor dem Haus geübt, bis sie stürzte und sich ein Bein brach.“

Er musste sich stützen, als er aufstand, und als er hinüberging zu dem Topf fürs Wasser, hinkte er leicht. Er zog den Napf in Reichweite des Schafes und füllte ihn bis zum Rand aus der mitgebrachten Kanne auf. Er richtete sich auf und streckte den Rücken durch.

„Das ist alles lange her. Erika ist gegangen und hat einen Teil von uns mitgenommen. Ich habe lange mit ihr geredet, doch sie ist stur, das hat sie von ihrer Mutter. Und als ich laut geworden bin und sie gefragt habe, was hieraus alles werden soll, hat sie sich umgedreht sie sich um und ist einfach abgefahren.“

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Aber jetzt hat sie angerufen. Sie ist der Meinung, ich komme allein nicht mehr zurecht.“

Es war noch nicht Mittag, die Sonne stand hoch und die Hitze hatte schon wieder ihre Unschuld verloren. Doch für den Nachmittag war Regen angesagt.

„Es ist nicht mehr viel Zeit“, sagte der Alte. „Sie kommen gleich. Gestern haben wir noch telefoniert und sie hat gesagt, sie kommt pünktlich. Weißt du, ich glaube schon, dass sie wusste, was sie uns angetan hat, damals. Sie hat ebenso gelitten, wie wir. Doch was sollte sie tun, was hatte sie für Möglichkeiten? Man führt sein eigenes Leben, man ist der Schmied seines Glückes. So musste sie fast gehen und ließ uns hier. Wir haben sie besucht, natürlich! Wir haben telefoniert und Else hat oft Briefe geschrieben. Bis vor einem dreiviertel Jahr.“

Er ging noch einmal hinüber zu dem Tier und streichelte es kräftig. Doch nun schien es dem Schaf gleichgültig; es fraß ohne Unterlass weiter.

„Für dich ist gesorgt, mein Freund. Ich habe Wolfgang Bescheid gesagt, er kümmert sich um dich. Dir wird es gut gehen. Ebenso wie mir – Erika meint, ich brauche Hilfe, allein zu leben ist nichts für mich. Und da hat sie wahrscheinlich Recht. Ich freu mich, wirklich. In einer halben Stunde ist sie hier.“

Bevor er sich umwandte, klopfte er dem Schaf noch einmal auf den Rücken. Er sah sich nicht mehr um, während er sagte: „Mach’s gut, Kumpel, pass auf dich auf! Mir wird es gut gehen, mach dir keine Sorgen. Meine Tochter hat gesagt, es ist ein sauberes Heim mit freundlichen Pflegern.“

So ging er, ebenso vorsichtig wie er gekommen, war den Weg zurück. Ohne zu zögern verschwand er hinter dem Haus. 

 

Eine Erzählung von mir aus dem Jahre 2006, etwas nachdenklicher.

Damit habe ich den ersten Preis des Literaturwettbewerbs "Weggabelungen" 2006 des BBZ e.V. Wittenberge gewonnen.