Die Ablösung

»Setzen Sie sich zu mir!
Wie Sie die letzten Tage um mich herumschlichen, zeigt mir, dass Sie neugierig sind, junger Freund.
Setzen Sie sich schon! Wir trinken einen Kaffee zusammen und unterhalten uns. Wenn Sie fort wollen, bitteschön. Ich glaube, dass Sie bleiben werden.
Sie sind immer wieder hier gekommen, um zu sehen, ob der zottelige alte Mann noch in dem Café sitzt, seit drei Tagen schon und auf die Straße starrt.
Die Neugierde, junger Freund, ist ein Wesenszug, der dem Menschen zum Verhängnis werden kann. Was trieb Faust in den Pakt mit Mephisto? Wissbegierde? Macht und Kenntnis? Ein Gutteil war Neugierde, pure, selbstzweckhafte Neugier.
Der Leser der BILD-Zeitung mag ebensolche Beweggründe für seine Lektüre haben.
Wussten Sie, dass Johann Faust anno 1540 sein Leben bei einem Unfall im Laboratorium lassen musste?
Ich habe Sie ausgewählt. Was, meinen Sie, habe ich hier die vergangenen Tage getan? Verabschieden Sie sich von Ihrem bisherigen Leben!
Schauen Sie sich um, der Herbst zeigt sich von seiner besten Seite. Der Park dort drüben! Die Kinder spielen mit ihren Familien und ahnen nichts vom Lauf der Welt. Für sie zählt der Augenblick, eventuell der nächste. Deshalb sind sie so glücklich.
Oder nehmen Sie die alte Frau, drüben auf der Bank. Sie nimmt sich von der Sonne, weil es das letzte Mal sein kann. Rührend, nicht, wie sie ihre letzten Tage mit Annehmlichkeiten zu füllen sucht? Sie hat gelebt und nimmt Abschied von der diesseitigen Welt.
Es ist alles ganz anders!
Dies ist die eine, die sonnige Seite des Daseins. Auf der anderen, unter der Oberfläche, brodelt es; die schleimige Suppe schlägt Blasen und wartet darauf, auszubrechen. Wir sind umgeben von Schmerzen und Qualen, und selten genug sind wir fähig, sie zu erkennen.
Oh, Sie wollen gehen? Dann bitte. Aber Sie werden die Wahrheit nie erfahren über den zotteligen Alten, der tagein, tagaus in diesem Café saß und Sie anstarrte! Ihre Entscheidung.
Ah, sehen Sie! Sie haben Ihren Kaffee auch noch nicht ausgetrunken. Lehnen Sie sich zurück. Ich will versuchen, Ihre Neugierde zu stillen. Lassen Sie mich meine Geschichte erzählen:

Es ist länger her, als die Spanne eines Lebens. Ich war etwa so alt wie Sie. Ich war neugierig und impulsiv; neugierig auf das Dasein und impulsiv im Handeln, wenn es darum ging, das Leben zu erfahren.
Die Zeit war grau, und obwohl wir heiße Sommer hatten, schien sich das Wetter nie vollständig aufzuklären. Über allem lag ein Schleier. Kurz nach dem großen Krieg war Knappheit unser täglicher Begleiter. Trotzdem hörte man kaum Klagen. Dieser Mangel als solcher war kaum jemandem bewusst, denn wir lebten genauso in einer Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung. Wenn der Wanderer die Senke erreicht, weiß er,  jeder Weg, den er einschlägt, führt aus dem Tal hinaus. Und dass wir uns in einem Tal befanden, daran bestand kein Zweifel. Wanderer waren wir alle.
Ich hatte meine erste Stelle als Lehrer angetreten, jung, unerfahren und allein auf der Welt. Verzweifelt suchte ich nach Bindungen, bereit, jedes Lächeln, jedes nette Wort für den Anfang einer freundschaftlichen Beziehung zu nehmen. Meine Eltern waren beide umgekommen, und ich hatte die Trauerarbeit noch längst nicht abgeschlossen. Denkbar ungünstige Bedingungen, ein Leben in der Fremde zu beginnen.
Die Verhältnisse an der Schule waren ebenso katastrophal im Land. Natürlich! Wie wollen Sie verlangen, dass man sich um die Bildung künftiger Generationen kümmert, wenn nicht mal das eigene Überleben gesichert ist. Die Schule war die einzige ihrer Art für die Umgebung. Doch wir konnten schon dankbar sein, dass wir über ein intaktes, einigermaßen dichtes Gebäude verfügten. Die Räume waren klein und natürlich nur notdürftig ausgestattet. Lehrmittel gab es so gut wie keine. Beim Anschauungsunterricht war man auf die Fantasie der Kinder angewiesen und auf die Fähigkeit der Lehrer, diese zu wecken. An Papier eventuell, an Stifte oder Schulbücher war überhaupt nicht zu denken, und wenn Materialien doch einmal vorhanden waren, dann sprachen sie in der falschen Zunge. Lehrten unrichtige Ideologien.
Trotzdem waren wir motiviert, wir wussten, auch wenn der leere Magen sich zuerst meldete, war doch nichts schlimmer, als den Kopf zu vernachlässigen.
Das Kollegium war klein. Meist Frauen, die wenigen Männer waren entweder alte Nazis oder junge Schnösel. Mit den Frauen kam ich besser zurecht. Vielleicht war es ihre mütterliche Seite, die ihnen sagte, dass man mich noch immer sanft anfassen musste. Eine Freundschaft oder eine Beziehung baute sich trotzdem nicht auf.
Ich hatte in einem Nachbarort ein Zimmer genommen. Die Vermieter waren freundlich, ein älteres Ehepaar, das sich in seinem Lebensabend eingerichtet hatte. Ihr einziger Sohn war im Krieg gefallen, nun waren sie darum besorgt, dass es mir gut ging. Anscheinend sollte ich seine Rolle übernehmen. Jeden Morgen stand Frühstück bereit, obwohl nicht viel zu verteilen war. Doch ein Ei, einige Scheiben Brot und oft genug jede Menge frisches Obst lagen morgens bereit. Ich hatte es gut bei ihnen, es schien, als spendeten wir uns gegenseitig Trost.
Um zu meinem Arbeitsort zu gelangen, musste ich einen Weg von etwa vierzehn Kilometern zurücklegen. Der Hausherr hatte mir ein Fahrrad überlassen, alt zwar, doch stabil und unverwüstlich. Der Alte hatte es nicht mehr nötig, Orte schnell zu verlassen oder irgendwohin zu gelangen.
So trat ich morgens, oft im Dunkeln, wenn die halbe Welt noch schlief, und abends, auf dem Weg zurück, kräftig in die Pedalen. Vierzehn Kilometer hin und nach getaner Arbeit wieder vierzehn zurück. Und soll ich Ihnen etwas sagen, es machte mir nichts aus! Auch wenn es in Strömen regnete, sodass ich kaum etwas sehen konnte und ich mich erst trocken rubbeln musste. Oder, wenn es stürmte, und der Wind mich hinderte, weiterzufahren. Ich nahm es hin, obwohl ich dann und wann fluchte. Wissen Sie, in Sachen Leidensfähigkeit ist die moderne Bevölkerung nicht halb so gut wie die damaligen Menschen. Viele der heutigen Probleme wären wie weggewischt, wenn man einiges in Kauf nehmen könnte und dabei weniger jammerte.
Mein Weg führte mich eine ruhige Allee entlang, die von Linden gesäumt war, wie auf eine Schnur gereiht. Stoisch ließen sie die wenigen Wanderer und Radfahrer an sich vorüberziehen. Im Sommer war es schattig auf dem Weg und im Winter schirmten die Bäume die eisige Kälte ab. Sooft es ging, fuhr ich langsam und entspannt den Weg entlang, um die Stille und die Gelassenheit zu spüren. Hier konnte ich mich treiben lassen, jeder Rhythmus schien zu schnell und unangebracht. Ich war froh, täglich diese vierzehn Kilometer hin- und zurückfahren zu dürfen.
Vor den Toren der Stadt auf meinem Weg lag ein kleines Dorf, das aus wenig mehr als einem Dutzend Häusern bestand. Sie schmiegten sich so eng an den Weg, als fürchteten sie, von ihm abzufallen.
Es war ruhig hier, eigentlich verlassen. Es herrschte eine gespenstische Stimmung, die man nicht im Mindesten mit der würdevollen Stille der Allee vergleichen konnte. Mich überlief, sooft ich das Dorf durchquerte, ein Schauder, dass ich unwillkürlich das Tempo erhöhte. Wenn ich hindurch war, atmete ich erleichtert auf, und ich wusste nicht weshalb.

Ich weiß nicht, wann ich sie zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Vermutlich war ich schon Dutzende Male an ihr vorbei geradelt, viel zu sehr damit beschäftigt, diesen verwunschenen Ort zu durchqueren. Und als ich sie bemerkte, nahm ich kaum Notiz von ihr. Sie fiel mir erst zu dem Zeitpunkt tatsächlich auf, als mir aufging, dass sie an ihrem Platz war, als warte sie auf mich.
Es war an einem Oktoberabend, als ich die alte Frau wirklich sah. Ich hatte bis spät gearbeitet, als ich mich anschickte, auf mein Fahrrad zu steigen, ging die Sonne unter.
Ich war abgespannt und müde. Die Kinder waren durch den Mangel um sie herum unausgeglichen und unkonzentriert, manchmal schien es, als würden sie von Tag zu Tag aggressiver.
Einer der Jungen hatte es mir angetan. Trotz seiner elf Jahre war er bestimmt fähig, wenigstens zwei Klassen zu überspringen. Er zeigte sich intelligent, aber wenig interessiert. Und rebellisch - mir gegenüber, meinen Kollegen als auch seinen Klassenkameraden. Ich wollte ihn fördern, doch er sträubte sich, als ginge es darum, einen Kampf zu gewinnen.
Er war an diesem Tag in eine Rauferei mit mehreren Schülern verwickelt gewesen. Dabei war es brutal zugegangen, und ich machte mir Sorgen um seine Gesundheit. Ich wollte seinen Eltern einen Besuch abstatten, doch als ich aus der Schule kam, war es zu spät dafür. Also fuhr ich in die andere Richtung.
Wie gesagt, die Dämmerung war hereingebrochen, aber ich radelte langsam und freute mich auf die Allee.
Das kleine Dorf, das ich durchqueren musste, wirkte verlassener wie eh. Obwohl ich jetzt schneller ausfuhr, fielen mir Dinge auf, die ich bis eben übersehen hatte: Die Häuser wirkten verfallen und verlassen, keine Zeugnisse menschlichen Lebens. Der leichte Wind ließ Sandfontänen über die trockenen Wege wehen. Vor einem Anwesen war der Zaun aus morschen Latten vollständig eingefallen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn aufzurichten oder die Überreste wegzuräumen. Allein das Tor vor der Einfahrt war intakt und verwehrte dem Besucher Einlass.
Keine Spuren, nur meine eigene, einsame Fahrradspur war jetzt im Entstehen, wurde gleich wieder zugeweht. Es war gespenstisch.
Und dann sah ich auf das Fenster in dem einzelnen Gebäude. Ich wäre beinahe vom Rad gefallen, so überrascht war ich, in dieser Einöde einem Menschen zu begegnen.
Die alte Frau wandte mir den Rücken zu. Sie trug eine Strickjacke, ihr graues, strähniges Haar war im Nacken festgesteckt. Von dem Gesicht war nichts zu erkennen, sie blickte in das Zimmer hinein.
   Es fällt uns zwar schwer, das Alter einer Person zu schätzen, aber wir können sehr gut sagen, ob sie jung ist oder ein Greis.
Gerade zur damaligen Zeit traf man viele Leute, die vorzeitig ergraut waren, doch sie waren nicht alt.
Diese Frau dort war uralt, ihr gekrümmter Rücken, die Kopfhaltung, das weiße Haar, alles deutete darauf hin.
In der kurzen Zeit, in der ich sie sah, saß sie still wie eine Statue. Sie bewegte sich keinen Zentimeter, hockte nur da und starrte ins Zimmer.
Ich muss zugeben, dass mich diese Begegnung nicht im Mindesten so berührte, wie es sich im Nachhinein anhört. Wäre es bei diesem einen Erlebnis geblieben, hätte ich die Frau mit Sicherheit nach wenigen Tagen vergessen.
Doch schon am nächsten Morgen, als ich im Dunkeln auf dem Weg zur Schule war, bemerkte ich, dass sie noch immer oder schon wieder in derselben Pose dasaß wie am Abend. Der Mond, der noch nicht untergegangen war, ließ sie wie ein Gespenst aussehen.
Den anschließenden Tag über hatte ich viel zu tun. Die Kinder waren zu bändigen, auf jeden Einzelnen musste eingegangen werden; sie verhielten sich wie eine Herde halbwüchsiger Fohlen. Der Junge, der sich bei der Keilerei verletzt hatte, verhielt sich auffällig ruhig. Er folgte dem Unterricht kaum, wirkte abwesend, und wenn ich ihn ansprach, zog er sich zurück. In den Pausen hielt er sich abseits von allen, als wolle er unterstreichen, in welchem Licht er uns sah. Ich machte mir Sorgen.
Dann geriet ich zu allem Überfluss in Streit mit einem älteren Kollegen. Er meinte, ich ginge zu nachsichtig und übertrieben weich mit den Schülern um. Meine Verfahren wären nicht geeignet, vernünftige Menschen aus ihnen zu formen. Ich war fassungslos.
Er war ein Vertreter alter Schule, ich musste ihm vorkommen, wie ein Heißsporn, als wir uns lautstark auf dem Flur unterhielten. Es kam zu einem Wortgefecht, in dessen Verlauf Dinge gesagt wurden, die besser unerwähnt blieben. In jedem Fall war ich hocherregt, als die Schule beendet und das Gebäude weitestgehend leer war. In einem winzigen Teil meines Hirns lauerte die seltsame Frau und wartete darauf, hervorzukriechen. Und als ich mich auf den Heimweg machte, waren meine Gedanken wieder bei ihr. Ich versuchte so gelassen wie möglich zu sein, doch je näher ich diesem Häuschen kam, dem Fenster, das mich als Einziges in diesem Ort interessierte, desto aufgeregter wurde ich. Ich schien nicht über die Straße zu fahren, es war, als kämen die Bäume und Häuser auf mich zu und zogen an mir vorbei, während sich in meinem zentralen Sichtfeld nur dieses eine Haus befand.
Sie saß wieder da. In eben der Positur wie am frühen Morgen, als hätte sie sich den ganzen Tag nicht gerührt.
Der kurze Moment, in dem ich sie sah, erschien mir wie eine unendliche Phase. Ganz so, als hätte sich die Zeit auf diesem Stück Wegs gedehnt. Ich konnte Einzelheiten erkennen, die mir sonst verborgen blieben.
Ich sah ein winziges Härchen auf ihrem Kopf in einem unbestimmten Luftzug wehen. Die Strickjacke, die sie trug, war alt und fleckig und über der linken Seite ihres Gesichtes, derjenigen, die in meinem Blickfeld lag, zog sich ein Netz feinster Runzeln und Fältchen.
Und sie saß ganz still.
Als ich vorbei war, ein paar Hundert Meter mechanisch weitergestrampelt, erwachte ich aus der Trance. Ich konnte wieder klare Gedanken fassen, und die erste Frage, die ich mir stellte, war: wer tut so etwas? Wer setzt sich so dicht an ein Fenster und schaut nicht hinaus?
Den Rest der Fahrt brachte ich grübelnd hinter mich; ich hatte keinen Blick übrig für die Schönheit der Allee. Die Fragen schwirrten mir durch den Kopf, Fragen, auf die ich keine einzige Antwort wusste.
Von diesem Tag an lag mein Augenmerk bei den Fahrten zur Schule nicht mehr auf meinen geliebten Linden. Egal, welches Wetter herrschte, ob ich Termine hatte oder nicht, ich beeilte mich mit meinem Fahrrad in dieses merkwürdige Örtchen zu gelangen, dessen einziger Bewohner diese Frau zu sein schien. Und jedes Mal, wenn ich mit angehaltenem Atem an ihrem Haus vorbeifuhr, saß sie da und wartete auf mich, als hätten wir eine geheime Abmachung, einen Termin, den wir einhalten mussten.
Ich begann tagsüber an die Gestalt zu denken, mir Fragen zu stellen.
Was, wenn sie Hilfe benötigt, wenn sie sich nicht mehr bewegen kann? Immerhin war sie eine alte Frau. Was war, wenn sie tot war oder nicht mehr fähig, einen Finger zu rühren.
Doch jedes Mal, wenn ich solche Überlegungen angestellt hatte und ich warf einen Blick auf sie, schien sie sich zu bewegen, ein winziges Stück nur, die Schulter vielleicht oder den Kopf. Und ich hatte das Gefühl, sie lachte mich aus, weil ich mich sorgte. Der Eindruck war so stark, obwohl ich doch ihr Gesicht gar nicht zu sehen konnte!

Das Gesicht! Im Laufe der Tage und Wochen war die einzige Sache, über die ich wirklich nachgrübelte, das Gesicht der alten Frau. Ich hatte einen Körper vor mir, doch sosehr ich mich mühte, so langsam ich fuhr, es war nicht möglich, den kleinsten Blick auf ihr Antlitz zu werfen. Etliche Details, die mich interessierten. Hatte sie die Augen geschlossen, blickten sie gütig oder ernst, wenn sie geöffnet waren. Oder war die Frau blind? War ihr Gesicht von Falten übersät?
Ich begann, nach Hinweisen in meiner Umgebung zu suchen. Unauffällig fragte ich Kollegen aus, Nachbarn, Bekannte von Nachbarn; niemand schien etwas zu wissen über die Frau. Es hatte sogar den Anschein, niemand wollte etwas erfahren über sie; das Dorf, der unheimliche Ort, durch den ich jeden Tag fuhr, übte offensichtlich eine Art Bann auf die Gedanken meiner Gesprächspartner aus. Jedes Mal, wenn das Thema darauf kam, zog man sich zurück. Das wenige, das ich erfuhr, war nur dazu geeignet, meine Verwirrung zu vergrößern und Neugierde zu wecken.
Meine Vermieter schreckten sogar körperlich zurück, als ich sie nach der Frau in der Nachbarschaft fragte. Schon in dem Moment, in dem ich den Ort erwähnte, schauten sie mich an, als hätte ich über das Armageddon geredet.
Nach langem Zureden gelang es mir, ihnen einige Fakten zu entlocken.
Wie es schien, hatte die Frau seit jeher den Ruf des Geheimnisvollen. Die Leute mieden sie und ihren Sohn, umgekehrt war es ebenso. In früheren Zeiten wäre sie wahrscheinlich eine Hexe genannt worden, jetzt sprach man nur hinter vorgehaltener Hand über Teufelsanbetung und schwarze Messen. Konkretes erfuhr ich nicht, sicher waren nur einige betrübliche Details. Ihr Sohn war in den Krieg gezogen, wie Hunderttausende. Und ebenso wie viele andere war er nicht zurückgekehrt. Dieses Schicksal hatte scheinbar ein Großteil der Männer des Dorfes getroffen. In die Schlacht gezogen mit lautem Hurra, den Kampf ausgetragen für andere Herren und das Leben gelassen für einen Grund, den man nicht verstand. Die Frauen und Kinder zogen verbittert fort, und zurück blieb ein fast völlig verwaister Ort, in dem nur eine alte Frau ausharrte, als warte sie noch immer auf ihren Sohn. Doch sie schaute nicht hinaus!
Ich wagte nicht, die Erkundigungen über die Alte öffentlich zu betreiben, ich wäre als Neuling selbst in eine Schublade getan worden.
Also lebte ich das Leben, das man erwartete, und wenn ich allein war, dachte ich über das Problem nach.
Ich durchfuhr die Allee und empfand keine Freude dabei, ich gratulierte mir, wenn ich es geschafft hatte, die Stadt zu erreichen, ohne verflucht zu sein. Immer häufiger ertappte ich mich, wie ich unkonzentriert war und nicht bei der Sache.
Das Leben in der Schule indes ging seinen gewohnten Gang - meinte ich. Der Streit mit dem älteren Kollegen war scheinbar beigelegt, niemand hatte sich beim anderen entschuldigt, kein Wort des Bedauerns. Wir erwähnten die Sache nicht, wahrscheinlich auch, weil uns unser Verhalten peinlich war. Unfassbar, wie schnell es passiert, dass man die Beherrschung verliert und notwendige Regeln des Zusammenlebens vergisst. Wir gingen uns aus dem Weg.
Es gibt es immer Kinder, mit denen man aufmerksamer umgehen muss als mit anderen. So einer war zweifellos mein Freund, der so unrühmlich in die Schlägerei verwickelt gewesen war. Mit Zuneigung und Vertrauen konnte ich das Eis brechen und es würde die Mühe lohnen. Er täuschte Desinteresse vor, ihm schien das Gespräch langweilig, doch ich wusste, er war auf der Suche nach einem Gegner.
Aber die Prügelei und seine Verletzung hatte ihn noch verschlossener werden lassen. Er wurde einsilbiger, seine Antworten, patziger und kürzer. Bei Fragen wich er aus. Doch gerade dieses Verhalten stachelte mich an. Ich vergaß sogar zeitweise, die alte Frau, wenn ich mit ihm beschäftigt war.
Ich hatte praktisch zwei Probleme gefunden, die sich bei mir zu einer Manie auszuweiten drohten.
Doch die Frau, einsam auf ihrem Posten, hielt mich weiter in Atem. Ich fuhr jeden Tag an ihrem Fenster vorbei und sie schien auf mich zu warten, wie ein Ritual, das Tag für Tag ablief. Auch ihre Bewegungslosigkeit blieb dieselbe. Sie saß weiterhin so starr wie am ersten Abend.
Und ich wurde immer besessener. Später habe ich mir wieder und wieder die Frage gestellt, warum ich nicht einfach hineingegangen bin, weshalb ich den Mut nicht aufbrachte für eine direkte Konfrontation. Mir war bewusst, dass die Alte mich sehr wohl wahrnahm, dass sie über mich Bescheid wissen musste und jeden meiner Schritte vorausahnte. Sie kannte mich besser als irgendjemand sonst, das stand für mich fest, ohne dass ich wusste, weshalb.
Der Wille und die Macht des Wesens am Fenster schienen groß zu sein, auf geheime Weise waren wir miteinander verbunden.

Und dann fehlte plötzlich der Junge. Er kam einfach nicht zur Schule, niemand wusste, warum. Ich machte mir Sorgen von dem Augenblick an, in dem ich davon erfuhr, deshalb besuchte ich seine Eltern. Und war erschüttert.
Ich hatte sie bis jetzt noch nicht kennengelernt, schlagartig wurde mir hier klar, warum das Kind so misstrauisch und abweisend war. Der Vater ein trunksüchtiger Bauer, der Widerworte nicht duldete und sogar mir Angst einflößte. Die Mutter hatte sich in ihrer häuslichen Situation eingerichtet, dass sie ihrem Mann jeden Wunsch erfüllte, um seinem Zorn zu entgehen. Das Leben musste furchtbar sein für den Knaben und seine zwei kleineren Schwestern. Schule sah der Vater als nicht wichtig an.
»Der Junge hat für den Unterhalt der Familie zu sorgen«, grummelte er. »Ham ihn zehn Jahre durchgefüttert, jetz kanner auch was tun.« Dass die Mutter nicht dieser Meinung war, konnte ich an ihren Augen sehen.
»Der Junge ist hochintelligent«, sagte ich. »Wenn wir ihn nicht fördern, wird er sich sein  Leben lang Vorwürfe machen.«
»Das Leben hat für ihn schon begonnen!«
Der angetrunkene Mann drehte sich weg von mir und es brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass er nicht mehr sprechen wollte.
Der Junge lag mit Schmerzen im Bett. Ich fragte, was der Arzt meinte, doch die Mutter sagte, dass ihnen das Geld dafür fehle.
»Der Junge ist verletzt«, herrschte ich sie an. »Sehen Sie nicht, dass er unbedingt behandelt werden muss?«
Dass dieses Kind einen Arzt benötigte, war unzweifelhaft. Doch die Ignoranz in diesem Haus machte mich fassungslos.
Am nächsten Morgen unternahm ich etwas. Nachdem ich meinen Pflichtbesuch bei der alten Frau am Fenster hinter mir hatte, konsultierte ich einen jungen Arzt, von dem ich wusste, dass er mir helfen würde. Gemeinsam kehrten wir bei der Familie ein, die damit nicht gerechnet hatte.
Nach kurzer Untersuchung stand die Diagnose: mehrere gebrochene Rippen, jede Menge Schürfungen und einige Quetschungen. Alles eben, was man sich bei einer Schlägerei holen konnte. Der Junge wurde ins Krankenhaus eingewiesen.
Ich begleitete ihn, er blickte starr geradeaus, und wenn man ihn ansprach, zuckten seine Augen nur kurz.
Ich verspätete mich zum Unterricht. Die Stunde hatte begonnen, und vor dem Klassenzimmer wartete der Kollege, mit dem ich in Streit geraten war.
Er sah auf die Uhr und sagte: »Das also ist Ihre Art, aus Schülern vernünftige Menschen zu machen.«
Ich wollte mich an ihm vorbeischieben, doch er baute sich auf und lauerte auf jedes Wort von mir.
Das Letzte, das ich in dieser Situation gebrauchen konnte, war ein Streit mit ihm. Doch ich sah blanken Hass in seinen Augen, der Hass des Alters auf die Jugend, wie ich annahm.
»Lassen Sie mich vorbei!«, sagte ich.
»Sie sind das Allerletzte«, zischte er. »Durch Leute wie Sie gerät die Ordnung durcheinander. Nichts ist ihnen gut genug, Sie stellen alles infrage.«
»Wir haben verschieden Auffassungen von unserem Beruf«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Doch wir ziehen am selben Strang!«
Dann passierte etwas, das ich damals nicht verstand und das mir immer noch Angst macht. Er tat einen Schritt auf mich zu und hob die Hand. Im ersten Moment meinte ich, er wolle sein Haar richten. Doch völlig unerwartet schlug er zu.
»Das soll Sie lehren, das Alter zu achten«, keifte er und begann auf mich einzutrommeln. Immer härter und stärker, ich konnte mich nur ducken und versuchen, die Schläge abzuwehren.
Und dann hieb ich zu, einmal nur, aber so fest, dass es in seinem Kiefer knackte. Ich hatte mich gewehrt, versuchte ich mir einzureden, doch wusste ich es besser. Ich hatte darauf gewartet, dass er mich angriff.
Scham erfüllte mich, als der Alte gebückt davonschlich.
Unsere Auseinandersetzung war unbemerkt geblieben, der Unterricht vollzog sich ungestört. So eilte ich in meine Klasse und versuchte, den Vorfall zu vergessen.
Der Kollege hatte schuld, sagte ich mir. Er hatte mich herausgefordert und ich musste reagieren. Reine Notwehr!
Doch das war eine Lüge, irgendwie hatte ich mir gewünscht, er möge zuschlagen.
Ich fühlte mich elend, und als der Unterricht endete, war ich erleichtert. Körperlich hatte ich keinen Schaden davongetragen, die Schläge des alten Mannes waren dazu nicht besonders hart gewesen. Ich hoffte nur, ihn nicht verletzt zu haben.
Diesen Abend sah ich im Krankenhaus vorbei. Der Junge wirkte etwa so elend, wie ich mich fühlte. Allerdings kam es mir vor, als wäre er nicht mehr ganz so apathisch. Er blickte interessierter, und das freute mich. Das kurze Gespräch mit ihm bildete einen kleinen Lichtblick für diesen Tag.
Doch nicht lange und er wurde wieder zunichtegemacht. Als ich schließlich in meinem Heim war, wartete die Vermieterin völlig aufgelöst vor der Tür auf mich. Die alte Frau zitterte und war den Tränen nahe. Unter Schluchzen erzählte sie mir, dass Einbrecher das Haus heimgesucht hatten. Fast der gesamte Keller war ausgeräumt worden.
Eingemachtes Obst war gestohlen, geräucherte Wurst - damals in Gold kaum aufzuwiegen. Es kam häufig vor, dass Lebensmittel geraubt wurden, nicht selten mit Gewalt. Doch hier waren sie besonders abscheulich vorgegangen. Sie hatten nicht nur die Vorräte mitgenommen. Aus Zerstörungswut legten sie den Rest des Kellers in Schutt und Asche. Scheiben zerschmettert, Schränke zerstört, die Räume sahen aus wie ein Kriegsschauplatz. Der Hausherr hatte über die Verwüstungen einen Schock erlitten, als er am frühen Nachmittag hinabgestiegen war. Der Arzt hatte ihn umgehend ins Krankenhaus geschickt, weil der alte Mann zusammengebrochen war.
Ich schlief unruhig in dieser Nacht. Träume, voll von Gewalt und Aggression, unzusammenhängend und auf geheimnisvolle Weise doch zueinander passend. Einige Male wachte ich auf, am ganzen Körper zitternd, und lag in der Finsternis. Ich vermutete, erste Anzeichen einer Grippe. Doch ich lag so falsch! Nicht ich war krank.

Elend fühlte ich mich am folgenden Tage noch. Ich hatte das Gefühl mitverantwortlich zu sein für die Vorfälle in der Gegend, für Gewalt und Hass. Und als ich mit dem Fahrrad an dem Haus vorbeifuhr, spürte ich, dass wir verbunden waren, die alte Frau und ich.
Ein leichter Nebel lag über dem Pflaster und ließ mich frösteln. Ich sah die reglose Gestalt und fragte im Stillen: Was hast du damit zu tun, alte Frau? Bist du schuld an all dem Unglück?
Obwohl es sinnlos schien, stellte ich einen Zusammenhang zwischen ihr und dem Unheil um uns herum her.
Auch über der Schule schien ein Schleier aus Mutlosigkeit zu haften. Die Kinder waren ungewöhnlich still, sie folgten dem Unterricht oder wenigstens hatte es den Anschein. Ich gab mir alle Mühe, doch ich konnte keine Begeisterung bei ihnen wecken. Ängstlich hatte ich versucht, einen Blick auf meinen Kontrahenten zu werfen. Doch ich brauchte mich nicht zu verstecken; er hatte sich krankgemeldet.
Für einen Moment überlegte ich, ihn zu besuchen, doch den Gedanken verwarf ich.
Die Tage zogen in Gleichmaß vorbei, dass ich es kaum bemerkte. Ich fuhr zur Arbeit, unterrichtete, hielt mich im Anschluss etwas in der Schule auf und begab mich dann ins Krankenhaus, wo zwei Personen auf mich warteten. Mein Vermieter war bald genesen; er hatte keine Schäden davongetragen, außer dem Misstrauen in die Welt. Wir unterhielten uns angeregt, und als ich ging, sagte er, dass er am nächsten Tag mitkommen würde.
Bei meinem jungen Freund war die Sache schwieriger. Ich hatte den Eindruck, die Umgebung, die Atmosphäre im Krankenhaus tat ihm gut, er schien sich zu freuen, mich zu sehen.
Doch körperlich machte sein Gesundungsprozess kaum Fortschritte. Der Arzt sprach von Komplikationen und einem möglichen Rückfall. Eine gebrochene Rippe schien ihm mehr Kopfzerbrechen zu bereiten, als er zugeben wollte.
Umso mehr freundete ich mich mit dem Jungen an. Er hieß Mark, wir unterhielten uns, solange es ging. Meist war der Schlusspunkt unserer Gespräche die Schwester, die mich aufforderte zu gehen, weil die Besuchszeit beendet sei.
Es zeigte sich, dass er sich in seiner selbst gewählten Abgeschiedenheit mehr Gedanken machte, als ich es für möglich gehalten hatte. Für einen Elfjährigen war es geradezu ungewöhnlich, worüber er nachdachte. Er hatte Ansichten, die ich einem Vierzehnjährigen noch nicht zugetraut hätte. Und je aufgeschlossener er wurde, desto geistreicher wurden die Gespräche, die wir führten.
»Was willst du später werden?«, fragte ich ihn.
»Immer besser«, antwortete er lakonisch. »Ich arbeite an mir.«
»Warum versteckst du dich in dir selbst?«
»Warum rollt sich der Igel ein?«
Ich freute mich auf meine Besuche im Krankenhaus.
Dann kam der Tag, an dem mein Vermieter entlassen werden sollte.
Ich betrat das Hospital, der Arzt kam mir entgegen und ich wusste, es war etwas Furchtbares geschehen.
»Er ist tot«, sagte er tonlos. »Wir haben Mark verloren.«
Die eine Rippe war dem Jungen zum Verhängnis geworden, sie hatte sich in den rechten Lungenflügel gebohrt, unbemerkt, doch mit tödlichen Folgen. Der Doktor vermutete, dass das Kind nicht geringe Schmerzen gelitten hatte, sich aber niemandem mitteilte.
Ich wusste, ich sollte etwas fühlen, Trauer oder Mitleid, aber ich war völlig leer. Der Arzt erkundigte sich, ob es mir gut ging. Ich brachte ein Nicken zustande.
Mit erschreckender Logik dachte ich über meine Gefühle nach. Ich hatte für kurze Zeit einen Freund gefunden, die Einsamkeit, die mich umgab, war kurz zerrissen worden.
Draußen dämmerte es, als ich aufs Fahrrad stieg. Es war eine milde Mondnacht, beinahe wolkenlos und fast taghell; so glitt mein dunkler Schatten vor mir her.
Ich fuhr, ohne dass ich viel von der Umgebung sah. In Gedanken versunken, horchte ich in mich hinein und versuchte, irgendeine Art Gefühl zu entdecken. Ich fand nur trostlose Stille.
Als ich in den Ort hineinfuhr, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Ich war allein! In meiner Nähe geschahen schreckliche Dinge und ich konnte sie nicht verhindern.
Der Gedanke brachte mich zu der Alten. Was hatte sie damit zu tun?
Sie hatte etwas damit zu tun!
So kam es, dass ich zum ersten Male vor ihrem Fenster hielt. Ich stieg ab und schaute zu der reglosen Gestalt, die vom Mondlicht erhellt wie ein Bild von Caspar David Friedrich wirkte.
Ich stand, hielt das Fahrrad in meiner Hand und starrte sie an. Dieses Wesen füllte mein Hirn, ich war besessen von der Frau, seit ich sie das erste Mal erblickt hatte.
Irgendwann fiel mir das Rad aus der Hand und schepperte zu Boden. Ich nahm es kaum wahr. Der Wind hatte nachgelassen, die Vögel sangen nicht mehr - Schweigen.
Ich wurde wütend, weil sie mich zu narrte und mir den Rücken zukehrte, als hätte sie hiermit nichts zu tun. Aber ich wusste, wie man nur etwas wissen kann, sie war der Ausgangspunkt, der Auslöser der Tragödien.
Ich schrie: »Zeig dich, du Teufelin! Komm raus!«
Stille! Das Dorf war tot.
Dein Gesicht, dachte ich, dein Gesicht will ich sehen.
Langsam bewegte sie sich. Sie drehte ihren Oberkörper in meine Richtung. Zentimeter für Zentimeter schob sich ihr Leib durch Luft. Sie wandte mir ihr Gesicht zu und lächelte mich an. Von Runzeln übersäte Züge, mit einem Lächeln, das dort hineingehörte. Eine Stimme in meinem Kopf sagte: »Komm herein!«
Unfähig, nur ein Glied zu rühren, wollte ich fliehen, doch ich bewegte mich kein Stück. Mir war, als gehörten Arme und Beine nicht zu mir.
»Komm! Ich brauche dich.«
Von einem Moment auf den anderen befand ich mich vor ihrem Grundstück und war dabei, das Tor zu öffnen. Ich tat das ohne eigenes Zutun.
Der Hof lag im Mondlicht, in der Mitte stand ein Hauklotz mit Blut an den Rändern, vor Kurzem war geschlachtet worden. Verfallene Stallungen, ein Geruch von Verwesung über allem; Fliegen umschwirrten mich.
Die Tür zum Haus stand offen, nicht einladend, eher wie eine Wunde. Zögernd trat ich näher, allmählich wurde ich mir meines Tuns bewusst. Ich hatte den Hof wie ein Einbrecher betreten.
Das Innere war finster, bedrohlich, und mein kurzzeitig aufkeimender Mut war verflogen.
Mit Bedacht setzte ich einen Fuß in das Haus, noch einen und ich wusste, dass es kein zurück mehr gab. Mein Leben war vorbei.
Drinnen war es nicht halb so dunkel, wie es von draußen ausgesehen hatte. Doch es war nicht zu erkennen, woher das Licht stammte.
Ich kam in einen Raum, beherrscht von einer verwitterten Anrichte mit abblätternder Farbe. Durch das Glas erkannte man, dass nichts im Inneren war, außer einer zentimeterdicken Staubschicht. Ein verlassenes trauriges Zimmer. Ebenso der Raum hinter der nächsten Tür. Schäbige Möbel, ein dunkler Tisch in der Mitte, keine Bilder an den Wänden, vergilbte Tapeten mit Schimmel darauf. Das ganze Haus war unbewohnt und kalt. Spinnweben wehten leise in unangenehm eisigem Durchzug. Die Fenster waren scheibenlos, die kalte, mondbeleuchtete Welt draußen, schien weit entfernt.
Eine weitere Tür ließ sich leicht öffnen. Dahinter lag sich ein ebenso schmutziges Zimmer, das im Gegensatz zu dem vorherigen fast leer war. Eine kleine Kinderbadewanne stand in der Mitte, gusseisern verziert bis kleinste Einzelheiten. Langsam ging ich darauf zu. Meine Schritte klangen hohl. Ich konnte Ringe auf dem Wasser erkennen, Bewegungen, als wäre eben das Kind dem Bad entnommen. Bedächtig tauchte ich meine Hand in die Flüssigkeit, sie war angenehm warm. Als ich die Finger heraushob, ließ ich sie einen Moment über dem dunklen Spiegel schweben.
Mit quälender Behäbigkeit löste sich ein Tropfen und erzeugte erneute Ringe, als er auf die Wasseroberfläche traf. Ich hörte das Geräusch des Tropfens mit klarer Deutlichkeit; obwohl es unmöglich war, konnte ich auch das leise Plätschern der Wellen wahrnehmen.
Als ich aufblickte, war ich in dem Zimmer der alten Frau. Die Wanne war verschwunden, ein alter Sessel stand am Fenster, in dem sie saß. Ich konnte nur Umrisse erkennen, das Mondlicht blendete.
Es herrschte Grabesstille und eine Spannung, dass es zu knistern schien. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich, sie zu mustern. Ich ahnte, wie ihr Nasenflügel bebte, ein Lufthauch ließ einige feine Strähnen feinen Haares schweben. Ich versuchte einen Schritt in ihre Richtung zu machen, doch meine Beine versagten. So konnte ich wieder nur dastehen und abwarten.
Eine wohlige Wärme umfasste mich, mir kam der Gedanke, ich wäre zu Hause. Angekommen.
»Du bist gefolgt«, sagte die Frau. Die Worte rollten in mein Hirn. Ihre Stimme war brüchig und müde, doch voller Willen.
Sie hatte sich noch immer nicht bewegt.
»Du meinst, du hast mich gefunden.«
Ich antwortete nicht.
»Nein, ich habe dich gerufen und du bist gekommen.«
»Das ist nicht wahr. Es war meine Entscheidung, herzukommen und Sie kennenzulernen.«
»Du weißt, dass es nicht so ist. Warum ist der Junge gestorben?«
»Er ist seinen Verletzungen erlegen. Eine Tragödie.«
»Unsinn!« Sie wurde wütend. Sie drehte sich um und funkelte mich an. »Völliger Unsinn! Ich bin schuld. Hörst du? Ich trage die Verantwortung. Ich konnte es nicht verhindern.«
Ich wich einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand.
»Das kann nicht sein«, beharrte ich. »Wie hätten Sie den Tod des Jungen verhindern können? Sie haben sich nicht aus ihrem Haus bewegt.«
»Ich hätte es trotzdem abwehren müssen.« Ihr Blick ging zu Boden. »Aber ich bin zu schwach. Meine Hände zittern, ich habe Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich nütze niemandem.«
Ich hatte keine Antwort.
»Du musst helfen«, sagte sie. »Deshalb bist du hier. Lange geht es nicht mehr, alles wird schlimmer.«
»Ich verstehe nicht. Wie sollte ich Ihnen helfen können?«
»Nicht mir, Dummkopf, allen! Du musst allen helfen. Ich bin unwichtig, du bist unwichtig. Was zählt, sind alle.«
»Aber ich verstehe nicht. Erklären Sie mir, was vor sich geht.«
»Hast du es immer noch nicht begriffen? Du bist der Helfer, wie ich es war vor vielen Jahren. Und in ebenso vielen Jahren wird es ein anderer sein. Setz dich!«
Ich nahm einen wackligen Stuhl und platzierte mich der Greisin gegenüber.
»Glaubst du an Gott?«, fragte sie streng.
»Ich weiß nicht, was das hiermit zu tun hat.«
«Glaubst du an Gott?«
»Ja?«
»Das brauchst du nicht.«
Auf meinen Blick hin lachte sie. »Wenn Gott existiert, gibt es auch seinen Gegenpart, meint man. Das Gute auf der einen und das Böse auf der anderen Seite. Der Teufel, Satan, Diabolus. Wir wissen, Luzifer war bevorzugter Engel Gottes. Schön, stolz - überheblich. Er glaubte, Gott herausfordern zu können. So wurde er Rebell und schließlich der Gefallene Engel und verbannt. Trotzdem ließ sein Stolz nicht nach - er zog in den Kampf gegen Gott. In der Apokalypse 12.4 wird gesagt, ein Drittel aller Engel hätte sich gegen Gott empört, sie wechselten die Seite. Das ist ein Haufen Dämonen, nicht wahr. Salomon, König Israels, wollte sie zählen. Er lockte sie in eine riesige Flasche, nahm sie gefangen und kam auf 6666 Teufel. Der Arzt Johann Weyer fand im 16. Jahrhundert genau 7 409 127 Widersacher. Kaum zu bewältigen für Gott. Viel Wahres daran, glaub mir. Aber nicht alles. Nein, alles trifft nicht zu.«
Ich nickte.
»Denn es ist viel schlimmer!«, kreischte sie plötzlich. »Gott existiert nicht.«
Stille. Ich wollte ihr erklären, dass das nicht zu beweisen war.
»Aber das Böse sehr wohl. Er kann machen, was er will, der Versucher, in all seinen Gestalten. Wir sind ihm ausgeliefert.«
»Das ist eine Glaubensfrage.«
Doch sie sah mich nicht an und schien mich auch nicht zu hören. Ganz in sich versunken erzählte sie weiter.
»Wir sind unserer wenige. Verstreut über die Lande, verpflichtet, die Menschen zu schützen. Wovor? Nenn es den Teufel, das Böse, die Versuchung, die Triebe. Die Namen sind verschieden, aber es ist immer dasselbe. Menschen tun sich gegenseitig Leid an, sie bringen sich um, es interessiert sie nicht, was ihresgleichen geschieht. Gleichgültig. Menschenliebe hat einen schweren Stand. Normen regeln das Zusammenleben, Tabus dürfen nicht gebrochen werden. Oberflächlich betrachtet sind die Gesetze gültig. Doch sie werden immer übertreten. Man hält sie für nicht wichtig.« Sie schluckte. »Wir kämpfen gegen diese Dämonen, unseresgleichen. Wir helfen den Menschen, ihre Instinkte zu kontrollieren. Über Generationen hinweg wurde der Stab von einem zum anderen gereicht. Eingewiesen in die Kunst, um ihr ein Leben lang zu dienen. Bis er zu schwach wird und einen Nachfolger sucht.
Wir halten die Versucher in Schach, wir pressen sie unter die Oberfläche. Und sollte diese Kraft nachlassen, kommt es zu schlimmen Dingen. Die Verlockungen des Bösen. Niemand weiß, warum es geschieht.«
»Das zu glauben, ist schwer«, sagte ich leise. »Sie geben sich selbst die Schuld für das Elend der Welt. Bei allem Respekt, schätzen Sie sich nicht zu hoch ein?«
Die Alte lächelte, um ihre Augenwinkel bildeten sich winzige Fältchen, als sie lautlos lachte.
»Ich will es dir beweisen.« Sie schloss die Augen. »Vorsichtig«, sagte sie. »In jungen Jahren war ich fähig dazu. Du kennst den Herrn der Fliegen?«
Ich hatte Mühe, sie zu verstehen. Leises Rauschen, das immer lauter wurde. Ich konnte ich den Ursprung dafür nicht erkennen, entsetzt sah ich die Alte an.
Panisch sprang ich auf, während die Frau mir gegenüber immer noch völlig ruhig blieb. Das Summen hatte ohrenbetäubende Ausmaße angenommen, es schien von allen Seiten auf uns zu stürzen.
Dann sah ich die Ursache: Millionen und Abermillionen winziger Fliegen drangen in schwarzen Schwärmen ins Zimmer ein. Sie durchflogen - ich schwöre - die Wände des Gebäudes und schienen aus dem Nichts aufzutauchen. Der Raum vibrierte von dem Lärm, überall bildeten sich dunkle Wolken. Ich stöhnte auf. Auf meinem Körper, in den Ohren, den Augen - überall Fliegen!
Ich wollte schreien, doch sofort setzte sich mein Mund zu. Über die Zunge, den Gaumen bis in den Rachen, sie krochen hinein. Ich würgte und spuckte, Panik breitete sich aus. Ich schlug um mich, wollte die Schwaden verjagen. Die Wolken verdunkelten sich, es war nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ohne Übergang, von einem Moment auf den anderen, kehrten die Fliegen um. Sie stoben in die andere Richtung, durch die Mauern zurück, dorthin wo sie hergekommen waren. Das Rauschen wurde leiser, bis es schließlich erstarb. Die Stille, die folgte, tat weh im Kopf.
»Der Teufel kam ein Stück weit herauf«, sagte die Alte mit geschlossenen Augen. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn.
»Ich habe ein klein wenig losgelassen«, sagte sie und sah mich wieder an. »Vielleicht kannst du ermessen, was passiert, wenn meine Kräfte schwinden. Luther schrieb: Wenn Gott uns nicht schützte, wären wir nicht einmal eine Stunde sicher vor Seinen Anschlägen. Du weißt, wen er meinte und so falsch lag er nicht. Doch er hatte eine andere Vorstellung von Gott. Ich bin Gott, einer von vielen!«
So wie sie das sagte, musste man ihr glauben.
»Und du wirst einer sein. Du hast gar keine Wahl. Ich habe dich gerufen und du bist gefolgt. Wir haben nicht viel Zeit!«
Damit erhob sie sich schwerfällig aus dem Sessel. Sie ging mir kaum bis zum Kinn, doch sie strahlte eine ruhige Stärke aus. Langsam kam sie näher.
Dabei hob sie ihre dünnen Arme, streckte sie mir entgegen und sagte beruhigend: »Es geht ganz schnell, das verspreche ich.«
Ich musste tief einatmen, der Boden schwang unter meinen Füßen. Eine greifbare Realität gab es nicht mehr. Ich versuchte, nach der Seite auszuweichen. In blinder Hast machte ich einen Schritt nach rechts und wäre um ein Haar gestolpert.
»Setz dich!«, herrschte sie mich an. »Setz dich hin und folge mir!«
Sie nahm in dem alten Sessel Platz und blickte mich an. »Ich werde dich jetzt all das lehren, was ich weiß. Hab keine Angst, es tut nicht weh. Jedenfalls nicht lange.« Sie legte mir ihre alten Hände auf die Stirn. Ich ließ es geschehen und schloss die Augen.
Blitze stoben, gleißende Helligkeit erfüllte mich. In meinem Kopf tanzten Gestalten und Formen, Farben breiteten sich aus, wollten mich sprengen. Ich sah Explosionen, die alles fortrafften und winzige Körper, die anwuchsen, bis sie mich ausfüllten. Ein Kampf tobte in mir, ich konnte nicht eingreifen, war Teil dieser Gewalten.
Plötzlich sah ich den alten Lehrer vor mi. Grabesstille, bis er sagte: »Sie sind das Letzte.« Dabei lächelte er. Doch sofort wurde er kleiner vor meinen Augen. Er schrumpfte und er bemerkte das. Dabei sah er mich ängstlich an. Weshalb machte ich ihm Angst, wo er sich doch vor dem fürchten sollte, was mit ihm geschah.
Er wurde nicht kleiner, ich war es, der sich veränderte. Ich wuchs, wie Alice im Wunderland.
Ich wurde größer und größer. Ich hätte ihn mit einer Bewegung meines Fußes zerquetschen können.
Schon war mir das Schulhaus zu klein, ich sprengte seine Mauern, ich reckte mich der Sonne entgegen und hätte sie mit der Hand greifen können.Ich war riesig und wuchs immer weiter.
Dann war ich von einem Moment zum anderen im Krankenhaus und hatte den toten Jungen im Arm. Ich presste seinen Körper an mich, als könnte ich ihm Leben einhauchen. Der Arzt kam und kreischte: »Sie haben ihn getötet!« Alle kamen, um zu glotzen. Sie blickten hasserfüllt und kreischten.
Dann begannen sie, mit ihren Fäusten auf mich einzuschlagen. Ich versuchte, mich zu schützen. Mich und den Leib des toten Jungen.
Stille.
Ich lag auf der Allee. Blitze zuckten geräuschlos, ein Unwetter kündigte sich an. Der Junge hatte sich aus meinen Armen befreit und ging, ohne sich umzuschauen, den Weg durch die Linden davon. Auf meiner Haut brannten immer noch die Tränen.
Das Unwetter näherte sich, ein Sturm, es begann zu regnen. Blitze und Donner, die entscheidenden Elemente. Ich war allein auf der Welt, es gab nur mich und das Unwetter. Peitschender Wind bog die Bäume nieder, schwere, Tropfen schlugen mir ins Gesicht. Dazu immer und immer wieder tosender Donner. Meine Kräfte wuchsen, Faser für Faser füllte sich mit Energie, es war, als sog ich die Macht des Gewitters auf. Blitze schlugen neben mir ein und ich genoss sie, wärmte mich am Feuer und wurde größer, riesig und stark, bis ich gigantisch war und die Welt verschlingen konnte.
Ich zerbarst in Tausende Teilchen und ich setzte mich wieder zusammen, wuchs an, fraß die Erde und spie sie wieder aus. Ich wusste, ich war ein König der Welt und sie vernichtete mich. Ich war Gott.
Dann plötzlich, mit einem Schlag war alles vorbei. Stille und Dunkelheit. Ich öffnete die Augen, saß allein in der kleinen Hütte. Ich hatte kein Leben mehr, doch ich wusste, was zu tun war. Eine schreckliche Zeit stand mir bevor.

Sehen Sie, das ist meine Geschichte. Und auch Ihre. Mein Leben war nicht mehr das, was ich kannte. Ich saß und kämpfte, ich versuchte, sie in Schach zu halten.
Die Dämonen, die uns alle quälen, die uns locken und deren Versuchungen wir nachgeben wollen. Ich konnte mich nicht beschweren, denn niemand kennt meine Geschichte. Ich träumte von der Allee und ich dachte an die Menschen, die ich kannte, früher einmal.
Doch meine Kräfte schwinden.
Sie haben bemerkt, in welch einem Taumel sich die Welt befindet.
Ich suche einen Nachfolger und habe ihn gefunden.
Kommen Sie, ich will meine Hände an Ihre Stirn legen! Niemand beachtet uns, wenn Sie kein Aufheben machen, zeige ich Ihnen die Geheimnisse der Welt. Haben Sie keine Angst, es tut nicht weh.Jedenfalls nicht lange.«

Auszug aus einem Artikel der regionalen Tageszeitung:
Am gestrigen Tag hat sich in einem Café am zentralen Markt ein Drama ereignet. Ein alter Mann erlitt während der Nachmittagsstunden einen Herzanfall und verstarb noch am Ort des Geschehens. Ein jüngerer Mann wurde verhaftet, denn es besteht Anlass zu der Vermutung, dass er etwas mit dem Tode seines Begleiters zu tun hat. Die beiden wurden beobachtet, wie sie offensichtlich miteinander rangen.
Der Geisteszustand des jungen Mannes scheint mitgenommen. Er wurde in die städtische Irrenanstalt eingeliefert, wo er hoffentlich für den Rest seines Lebens in Verwahrung bleiben wird. Ganz ohne Zweifel ist der Mann gemeingefährlich.