Der Waldbrand

 

 

 

 

Das war kein großer Wald.

 Er hatte eine Fläche von 9,81 Hektar.

 Er war angelegt worden vor 68 Jahren, die Bäume hatten sich bei der wechselhaften Hege und Pflege recht gut entwickelt und waren jetzt vereinzelt ziemlich mächtig.

 16 826 Exemplare unterschiedlicher Arten Bäume zählte der Wald. Davon waren 14 530 den Nadelgehölzen zuzurechnen (durch die Bank Kiefern), und 2 296 Laubbäume.

 Auf dem gesamten Gelände standen 2 477 kranke oder abgestorbene Individuen, 628 völlig abgestorbenen und 1 849 kranke Geschöpfe, die vor dem Tode standen.

Eine riesige alte Eiche, knorrig und erhaben, stand ausladend und raumgreifend etwas abseits von dem Wald, aber ihm doch noch zugehörig, einem Torwächter gleichend oder einem Türsteher. Sie war älter als alles, was hier in der Nähe lebte, und man war sich bewusst, dass sie die meisten Kreaturen hier um Jahrzehnte überleben würde.

 

Der Brand entzündete sich in gleißender Mittagsglut an einer achtlos fortgeworfenen Scherbe aus Grünglas. Durch ihre Lage und durch das knochentrockene Waldgras darunter funktionierte es wie ein Brennglas, und als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, stand sie im idealen Winkel zu der Linse, um das Feuer zu entfachen.

 Zunächst züngelten die unscheinbaren Flammen von niemandem beachtet, als gehörten sie hierher. Einzig eine Rote Waldameise änderte ihre Route, als sie der noch geringen Hitze zu nahe kam. Sie schlug einen anderen Weg ein und kümmerte sich nicht um das ihr unbekannte Element. Allein, es nutzte ihr nichts. Ebenso schnell wie das Krabbeltier, getrieben von seinem Instinkt, die Richtung gewechselt hatte, so geschwind hatten sich die kleinen Flammen schon ausgebreitet und das Insekt erreicht. Mit einem kaum hörbaren Knacken platzte der winzige Chitinpanzer, die Ameise bäumte sich noch einmal auf – in einem letzten Reflex oder weil sich das trockene Material ihres Panzers verzog? – und die kleine Ameise war verloren, in den Flammen versenkt und von ihnen verschlungen.

 Das Feuer war noch immer nebensächlich. Jedermann verkannte es, es wurde nicht ernst genommen. Im Schutze dieser Ignoranz gelang es den Flammen, an Größe und Hitze zuzunehmen, sie breiteten sich aus und binnen kürzester Zeit hatten sie das von ihnen eingenommene Areal verdoppelt, und wieder und wieder. Und je mehr Gebiet eingenommen war, desto rasender vollzog sich  die Übernahme des nächsten Bezirks und potenzierte sich dadurch wiederum und weiter, weiter.

 Der Boden war trocken, die Gräser darbten und waren teilweise abgestorben, so dass sie eine ideale Nahrung für die Flammen gaben. Es knisterte und prasselte, und wenn man es nicht besser wüsste, hätte man meinen können, das Feuer hätte Vergnügen an seinem Tun.

 Die ersten Bäume wurden Ziel der Lohen. Der Geruch des Infernos lag in der Luft. Das Feuer nahm bedrohliche Ausmaße an, sollte es gestoppt werden, so müsste dies jetzt geschehen. Es blieb nicht viel Zeit, einige Augenblicke später wäre dieser Brand unkontrollierbar.

 Als die Flammen an der ersten trockenen Kiefer leckten, als sie den Stamm hochklettern wollten, da wurde die Fauna aufmerksam und unruhig. Die Tiere wussten nicht was es war, doch sie ahnten in den Tiefen ihres Unterbewusstseins, dass es sie töten würde, wenn sie nicht davonliefen.

 Und sie flüchteten. Wer in der Lage dazu war, lief davon. Hasen und Rehe, Wiesel und ein Fuchs, sie flohen verschreckt vor der todbringenden Feuersbrunst.

 Der Brand breitete sich horizontal wie vertikal aus, wenn auch nicht mit derselben Geschwindigkeit. Rasend schnell am Boden, so dass es vielen Tieren nicht mehr möglich war, das Weite zu suchen; ihr Leben endete jämmerlich in der Glut.

 In die Höhe kamen die Flammen nicht gar so schnell voran, doch es war abzusehen, dass das Feuermeer in Kürze auch diese Bastion würde eingenommen haben. Das Schicksal des Waldes war besiegelt; zur Flucht gab es nur die Alternative Untergang.

 Der hitzige Begleiter des Todes raste hindurch, und er machte keine Unterschiede. Den wenigsten gelang  die Flucht, allein schon deshalb, weil ihnen der Glaube gefehlt hatte - der Glaube an die Unerbittlichkeit der Natur.

 

Als die Katastrophe auf ihrem Höhepunkt war, das gesamte Waldstück war von dem Feuer erfasst, bot dieser Ort der Hölle das Bild endgültiger Schönheit. Riesige, meterhohe Flammen loderten über den Wipfeln, sie züngelten empor, als gelte es, den Himmel zu verbrennen. Es war ein Wettkampf ausgebrochen um die Gunst Gottes. Zu Füßen dieser Feuerszungen brandete ein Ozean aus Höllenglut. Überall war Bewegung, es war ein ständiges Aufflackern und Vergehen und erneutes Aufflackern. Unterschiede zwischen toter Materie und lebender gab es nicht, es befand sich alles in demselben Zustand. Und die alles beherrschende Farbe war rot – glutrot.

 Es schien, als hätte dieses Stückchen Natur, dieser kaum berührte Flecken Erde fast 68 Jahre dafür existiert, nur für wenige Minuten dieses absolute Bild unvergleichlicher Schönheit zu geben.

 Das Prasseln des Feuers, das ohrenbetäubende Krachen des Holzes, das Knirschen, das Knistern, es machte die Situation vollends unerträglich. Unmöglich, auszuharren und zu beobachten, nur Fliehen, Fliehen. Es gab keine Ruhe, das Chaos hatte die Herrschaft übernommen.

 

Die riesige Eiche vor den Toren des Waldes hielt am längsten aus, sie stand noch lange, nachdem die anderen Kreaturen aufgegeben hatten. Doch schließlich fiel auch sie. Die Flammen erreichten sie und stürzten sich hungrig auf die Nahrung. Als alles vorbei schien, reckte sich der alte Baum noch einmal auf, als wollte er sich gegen die Übermacht wehren. Doch dann war jeder Widerstand gebrochen.

 

Die Herrschaft währte knapp drei Tage, obwohl man es nicht wagt, bei der Dimension der Zerstörungskraft solch unscheinbare Elle anzulegen.

 Als das Feuer sich legte, war nichts mehr. Der Brand hatte alles verschlungen. Die wenigen verkohlten Stümpfe, die geblieben waren, unterstrichen nur das Ausmaß des Elends.

 Elend? – Kein Elend! Denn dieses Gefühl setzt lebende Materie voraus. Die ganze Fläche, die früher der stolze Wald eingenommen hatte, war jetzt gleichmäßig, hie und da einige Hügel,  aber sonst Ebene, soweit der Blick reichte. Über alles war ein schwarzer Teppich gebreitet – Russ und Asche. Qualmsäulen stiegen vereinzelt auf. Niemals, unter gar keinen Umständen würde hier mehr Leben entstehen.

 

Einige Zeit später, gar nicht lange danach, ging ein ergiebiger Regen nieder. Er währte die ganze Nacht und den folgenden Tag, das Wasser spülte Unrat davon und egalisierte manche Unebenheit im Boden.

 Als dann wiederum die Sonne aufging, machte das Auge eine unglaubliche Entdeckung:

Versteckt unter einem Baumstumpf, unter Schlamm und Geröll reckte sich, inmitten der schwarzen Wüste ein kleines grünes Blatt dem Licht entgegen. Das Pflänzchen schien zart und zerbrechlich. Und doch hatte es den Weg gefunden.

 

19.12.01