Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

In der aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung »Die distanzierte Mitte«, in der es um die Einstellungen der sogenannten Mitte der Gesellschaft geht, gibt es auch einige Aussagen zum historischen Nationalsozialismus, denen man zustimmen, teilweise zustimmen oder die man ablehnen kann.
»Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind in der Geschichtsschreibung weit übertrieben worden.« ist zum Beispiel eine der Aussagen, zu der man Stellung bezieht. Eine signifikante Zahl der Befragten stimmt dieser Aussage zu: 13,8% der Erwachsenen stimmen teils/teils zu, 5,6% überwiegend und 2,5% voll und ganz, dass der Nationalsozialismus in seinen Verbrechen von der Geschichte als übertrieben dargestellt wird.
Wenn man konservativ rechnet, wären das etwa 14 Millionen Menschen in Deutschland, die der Meinung sind, dass die Verbrechen, die im Nationalsozialismus begangen wurden teils oder völlig übertrieben dargestellt werden.

Da sag einer, Aufklärung tut nicht mehr not!

Aufklärung über die Mechanismen, sozialpsychologischen Vorgänge in den Köpfen der Täter und Mittäter, die Beantwortung der Frage: »Wie konnte das alles geschehen?« wird man vergeblich suchen in dem 2006 erschienenen Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littell.
Das Buch, das im Deutschen knapp 1400 Seiten umfasst, verlangt auch im übertragenen Sinne Durchhaltevermögen, es ist mentale Standhaftigkeit gefragt, wenn man dieses Werk bis zum Ende ertragen will.
Wir folgen im gesamten Verlauf des Textes dem deutschen SS-Offizier Max Aue, seines Zeichens Jurist, durch die ganze wechselvolle, grausame Geschichte des deutschen Nationalsozialismus und des Holocausts. Der Mann erzählt seine Biografie mit einem Abstand von 50 Jahren ohne den Anflug eines schlechten Gewissens, ohne Reue oder Scham. Nur hin und wieder, ganz versteckt, kann man in seinen Ausführungen den Hauch eines Zweifels entdecken, der aber meist sofort wieder weggewischt oder wenigstens relativiert wird. Wir bekommen hier einen Täter serviert, wie er normaler nicht sein kann (in der Einleitung sagt er explizit: »Ich bin ein Mensch wie ihr!«), in verschiedenen Episoden seines Lebens wird er uns sogar sehr nahegebracht, wir können ihn beinahe verstehen.
Dann wiederum werden wir von einem Schauer geschüttelt, hervorgerufen von blankem Entsetzen.

Wir begleiten den aufstrebenden SS-Mann durch viele dunkle Kapitel des Dritten Reiches. Angefangen vom Russland-Feldzug, wo er sich im Kaukasus an den Massakern an den ukrainischen Juden beteiligt, mit all den Grausamkeiten. Stichwort Babyn Jar, jene Schlucht auf dem Gebiet des heutigen Kiew, in der innerhalb von zwei Tagen mehr als 30.000 Juden fabrikmäßig abgeschlachtet wurden.
Es geht über Jalta wieder zurück in den Kaukasus, dann erlebt er die Schlacht von Stalingrad mit, wird Berichterstatter im Konzentrationslager Auschwitz und erlebt schließlich die Eroberung Berlins durch die Rote Armee.

Dabei begegnet er in einem fort historischen Personen, die auf die eine oder andere Weise mit dem Regime verbandelt sind. Er lernt Eichmann privat kennen, ist Angestellter bei Himmler und kreuzt den Weg vieler anderer realer und einiger nichtrealer Persönlichkeiten.

Dabei wird kaum etwas entschuldigt, wenig erklärt, aber vieles zeigt die Sicht der Täter. Wir haben wohl den ersten großen Roman aus der Perspektive der Verbrecher, und dementsprechend groß war die Debatte nach Erscheinen des Werkes. In Frankreich wurde es größtenteils wohlwollend aufgenommen und mit bedeutenden Erzählungen der Weltliteratur verglichen.
In Deutschland dagegen waren die Diskussionen ungleich kontroverser. Es gab Zustimmung wie auch tiefe Ablehnung, »...es ist genial und es ist der letzte Dreck.«[Klaus Harbrecht].

Man beginnt zu lesen, nimmt den Inhalt auf und rezipiert ihn; man wertet und gewichtet. Man versucht, sich zu wehren ob der Grausamkeiten und Unmenschlichkeit. Die Abwehrhaltung erstarrt, sie gelingt nicht immer.
Und irgendwann gibt man sich dem Erzähler hin, es fällt schwer, sich dem Geschehen zu entziehen, und es wird erahnbar, wie es damals war, als Menschen nicht mehr als Menschen zählten, als man wissenschaftlich zu beweisen suchte, dass Mitmenschen erheblich weniger wert sind als die eigene Gruppe.
Und man geht dabei mit, wie die Entwicklung fortschreitet, was aus dem Grundgedanken der Ungleichwertigkeit der menschlichen »Rassen« erwächst. Nämlich eine Gesellschaft, in der es normal ist, andere zu erniedrigen, zu foltern, zu töten.

Man kann die Grausamkeiten nicht verstehen nach der Lektüre dieses Buches, man weiß auch nicht zu sagen, wie es soweit kommen konnte. Aber man bekommt eine Ahnung davon, wie die Gemeinschaft weiter existiert, während solche Ungeheuerlichkeiten vonstattengehen. Wie es Menschen gibt, die die Augen verschließen, und andere, die vor sich selbst und der Umwelt immer wieder Entschuldigungen finden für das Mitmachen, für das Wegsehen, das Wissen darum.

Keine klare Leseempfehlung.
Für Leser, die das Vergnügen suchen, ist diese Lektüre wahrhaftig nichts. Aber allen, die an historischen Geschehnissen interessiert sind und die eine stabile psychische Gesundheit haben, ist dieser Mammut-Roman ans Herz gelegt.